„Was für gewöhnlich intakt bleibt in den Epochen der Versteinerung und des vorherbestimmten Untergangs, ist die Fähigkeit zur Freiheit selbst, das schiere Vermögen des Beginnens, das alle menschliche Aktivität belebt und beseelt und das die versteckte Quelle … aller großen und schönen Dinge ist.“ (Hannah Arendt)[1]
Am Ende des Jahres habe ich mir keinen einzigen Jahresrückblick angeschaut, keinen gelesen, keinen angehört, nichts dergleichen angeklickt. Nicht, weil es mich nicht interessiert hätte, nein. Aber manches von dem, was sich ereignet hat, oder, schon wieder, nicht ereignet hat, mag ich mir nicht mehr vergegenwärtigen.
Vielleicht auch deshalb, weil diese „Bilanz der Schrecken“[2] nach einem Jahr der intellektuellen, sozialen und politischen Überforderungen, die freilich kaum je von Regierenden zugegeben werden, die unausweichliche Frage aufwerfen würde: Was nun? Wie weiter? Die Antwort müsste lauten: Wir wissen es nicht – und damit ginge die Furcht einher, die nächste Wahl zu verlieren, das Amt, die Macht, mit der man die eigene Machtlosigkeit angesichts der Pandemie halbwegs zu kaschieren versuchte.
Offenkundig hingegen ist:
dass die sozialen und sozialpsychologischen Kollateralschäden der Pandemie(‑bekämpfung) noch weitgehend unabsehbar, aber jedenfalls groß sein werden;
dass die aufgewendeten Milliarden und Billionen zu nichts anderem als einem gigantischen Schuldenschnitt führen müssen und alles andere eine dreiste ökonomische Lüge ist;
dass die Fragilität von Lieferketten Aktionäre das Fürchten lehrt, die Arbeitsbedingungen am Ende dieser Ketten aber unbeachtet bleiben[3];
dass in Wahrheit keine Nation ausreichend auf eine Pandemie vorbereitet war, vielleicht mit Ausnahme von China;
dass die Sache mit dem Klima größer, schwieriger und gefährlicher wird, als es Covid-19 je sein kann – wobei diese Erkenntnis noch nicht angekommen ist oder konsequent verdrängt wird. Warum das so ist, dazu hat Andri Snær Magnason in seinem Buch Wasser und Zeit eine interessante Erklärung gefunden: „Die Veränderungen, denen wir gegenüberstehen, sind komplexer als die meisten Dinge, mit denen wir uns normalerweise beschäftigen. Sie übersteigen all unsere bisherigen Erfahrungen, sie übersteigen die Sprache und die Metaphern, die wir benutzen, um unsere Realität zu verstehen.
Es ist, als würden wir versuchen, den Lärm eines Vulkanausbruchs aufzuzeichnen. Bei den meisten Geräten bricht das Geräusch in einer bestimmten Frequenz, und man hört nur noch ein Rauschen. Für viele Leute ist das Wort ‚Klimawandel‘ ein solches Rauschen.“[4]
Es hat ein paar Wochen gedauert, bis außerhalb der naturwissenschaftlich-
medizinisch-mathematischen Community begriffen wurde, was „exponentielles Wachstum“ für die Ausbreitung des Coronavirus bedeutet. Irgendwann sind diese Kurven in den Abendnachrichten gelandet, und immer mehr Menschen haben
erkannt, dass das keine „normale“ Steigerung von Zahlen ist, sondern etwas wirklich Dramatisches. Dieser Erkenntnisgewinn aus der Pandemie könnte helfen, die längst bekannten exponentiellen Entwicklungen bei den Treibhausgasen richtig einzuordnen.[5]
So intensiv, wie die MinisterpräsidentInnen, GesundheitsministerInnen, EpidemiologInnen weltweit versucht haben, ihren MitbürgerInnen den Ernst der Lage klar und die Notwendigkeit von massiven Einschränkungen bis hin zum Lockdown verständlich zu machen, wäre es nun notwendig, dasselbe im Hinblick auf die Klimaveränderung zu tun. Die Folgen überfüllter Intensivstationen und fehlender Beatmungsgeräte zur Behandlung schwerkranker Covid-PatientInnen wurde angesichts der Bilder aus Bergamo, wo Militärfahrzeuge Särge abtransportieren mussten, rasch klar. Krankheit und Tod waren unmittelbar und nahe – und dann, im vermeintlich leichten Sommer, wieder weit weg und schnell vergessen.
Die Wucht der zweiten Welle glich in ihrer Heftigkeit einem Tsunami.
Die Folgen der Versauerung der Ozeane[6] und des Abschmelzens massiver Eismassen, die gespenstische Geschwindigkeit, mit der Artensterben und Biodiversitätsverlust[7] voranschreiten, sind bekannt, aber niemand mag sie mehr hören.
Wer Corona nicht in den Griff bekommt, verliert Wahlen und Macht, weil Menschen jetzt erkranken, jetzt sterben, weil jetzt wirtschaftliche Schäden in Milliardenhöhe entstehen. Nur deshalb gelang der einzigartige Husarenritt, innerhalb eines halben Jahres Impfstoffe zu entwickeln und allein in Österreich 40 Milliarden für Hilfspakete locker zu machen. Das ist das Volumen von acht durchschnittlichen Steuerreformen!
Wer es hingegen nicht schafft, die Klimaziele zu erreichen, hat wenig zu befürchten, weil, wenn eintritt, was eintreten wird, andere regieren werden, irgendwann: 2030, 2040, 2050.
Einen Impfstoff gegen Corona in Rekordzeit zu entwickeln nimmt sich im Vergleich zu der Herausforderung, das 1,5-Grad-Ziel zu schaffen, als Fingerübung aus.
Dennoch hat die Pandemie gezeigt, was möglich ist, wenn universal gedacht und gehandelt, geforscht und investiert wird. Das kann nicht hoch genug eingeschätzt werden und ist im Übrigen auch der Europäischen Union zu verdanken, die massiv in Vorleistungen gegangen ist, um die Entwicklung von Impfstoffen zu beschleunigen.[8]
Der viel gescholtene Staat funktioniert, die Frauen sowieso
Verstummt – aber wohl nur vorübergehend – sind jene bisweilen überlauten Stimmen, denen der Sozialstaat europäischer Prägung suspekt, staatliches Handeln überschießend und staatliche Unterstützung marktverzerrendes Teufelszeug war. Gern genommen wurden Hilfen aller Art, gern genommen wurden die Spitalsbetten, die Testkapazitäten, das gesamte vielfach als „überteuert“ gebrandmarkte Gesundheits- und Sozialsystem.
Interessant zu beobachten war auch, dass plötzlich jene Frauen in den Fokus gesellschaftlicher Anerkennung rückten, die zuvor kaum als „systemerhaltend“ wahrgenommen und schon gar nicht dementsprechend entlohnt worden waren: Pflege- und Gesundheitsberufe, sowohl im ambulanten wie im stationären Bereich, werden überwiegend von Frauen ausgeübt. Personal in Supermärkten: zumeist Frauen. Kinderbetreuung und Beschulung von Kindern zu Hause im Lockdown: Frauensache. Viel mehr als Applaus von Balkonen hat es bislang dafür allerdings nicht gegeben. „Ohne Frauen ist kein Staat zu machen!“ – Das sollte eine zentrale Erkenntnis der Krise sein, und dementsprechend sollten wir an struktureller und echter Gleichstellung arbeiten. Beginnen wir doch gleich mit dem Schließen der Lohnschere zwischen Männern und Frauen bei gleicher Arbeit!
Es waren, so viel steht fest, enorme Anstrengungen die von Einzelpersonen, Organisationen, Unternehmen, Verwaltungen und Regierungen auf allen Ebenen erbracht worden sind. Eine kollektive Anstrengung, die zeigt, wozu „Gesellschaft“ in der Lage ist, wenn sie so herausgefordert wird wie 2020!
Im Hinblick auf die Notwendigkeit allerdings, die Unbewohnbarkeit des Planeten bis zum Ende des Jahrhunderts zu verhindern, erscheint die vorherrschende Kleinstaaterei wie der Versuch, Corona mit Globuli zu behandeln – mit dem Unterschied, dass der Glaube der Staatengemeinschaft, was denn eher nütze, Globuli oder Impfung, sich bei Corona- und Klimakrise genau umgekehrt verhält. Doch dazu später.
Kann Demokratie Krise?
Hinter kaum vorgehaltener Hand schwafeln manche davon, dass „die Chinesen leicht reden haben, die stellen einfach Millionenstädte unter Quarantäne und gut ist“. Man muss kein Verfassungsrichter sein, deutsche Bundeskanzlerin ist völlig ausreichend, um festzuhalten: „Dieses Virus ist eine demokratische Zumutung!“ Mancherorts besteht wohl die Versuchung, diese „demokratische Zumutung“ zu im Windschatten von Corona prolongieren und zum Normalzustand zu machen, zumindest in für Regierungen angenehmen und für Parlamente unerträglichen Bereichen. Die totalitäre Form des contact tracing[9] und der digitalen Überwachung[10] scheint jenen, die Regieren vor allem als Herrschen interpretieren, durchaus eine Überlegung wert zu sein.
Die Bewältigung der pandemischen Krise wird bisweilen als „Krieg gegen die Pandemie“ gesehen, mit Rückgriffen auf kriegsrechtsähnliche Maßnahmen. Das österreichische Epedemiegesetz aus dem Jahr 1950[11] beispielsweise gab dem Gesundheitsminister weitreichende Durchgriffsrechte, auch vorbei am Parlament. Saniert wurden diese Zustände erst durch das COVID-19-Maßnahmengesetz, wodurch nun die Befassung des Hauptausschusses des Nationalrates zwingend vorgesehen ist.
Am Ende des Jahres 2020 stellen – jedenfalls in Europa – alle Regierungen, egal welcher Ausrichtung, fest: Allein mit Gesetzen und Verordnungen, mit Vorschriften und Ausnahmeregelungen, mit Erlässen und Mahnungen ist die Bevölkerung weder zu gewinnen noch zu zwingen, die Eindämmung der Pandemie zur gemeinsamen Sache zu machen. Diese gemeinsame Sache ist nur demokratisch zu definieren, auf der Grundlage von Verfassung, Menschenrechten, Grundrechten. Schon allein deshalb braucht die Krise mehr Demokratie, und nicht weniger. Nicht der militärische Ton erzeugt Compliance, sondern das demokratische Ringen um Vorgehen und Methode. Es ist nicht einerlei, ob die Schulen geschlossen, die Geschäfte aber offen sind, ob Seilbahnen fahren dürfen, Theater und Museen hingegen verwaist bleiben müssen. Es ist kein Dogma, dass die sozialen Folgen von Homeoffice und Homeschooling, von Lockdown und Quarantäne weniger wichtig sind als die „größtmögliche Schonung der Wirtschaft“.
Diese Gratwanderung des Abwägens, des Fahrens auf Sicht, der Entscheidungsfindung auf unsicherer Daten- und Erfahrungsgrundlage kann Demokratien stärken oder sie aushebeln und auf Dauer schwächen. Die geschwächte Demokratie aber ist der Nährboden für die Trumps und Bolsonaros, die Orbáns und Kaczyńskis, für die AfD, den Front National und ihre Brüder und Schwestern im Geiste.
Die Stärkung der liberalen, parlamentarischen Demokratie also ist die Grundvoraussetzung für die Bewältigung dieser und aller weiteren, insbesondere der größten aller aktuellen Krisen: der Klimakrise, bei deren Bekämpfung es um nichts weniger geht, als die Bewohnbarkeit des Planeten für meinen Enkel und alle anderen Enkel sicherzustellen.
Was also tun? Was lassen? Eine ganz und gar subjektive Einschätzung
Es mag verblüffen, aber prioritär scheint mir, die Abgehängten wieder andocken zu lassen, und zwar emotional, sozial und ökonomisch. Damit das überhaupt möglich wird, müssen Voraussetzungen geschaffen und Hindernisse beseitigt werden – keine Kleinigkeit.
Keine zukunftsfähige Gesellschaft kann es sich leisten, einen wachsenden Teil der Bevölkerung zu verlieren, weil damit eine tiefgreifende Spaltung riskiert wird. Was das in aller Konsequenz bedeutet, sehen wir am Beispiel der USA, wo die Wahl Donald Trumps fälschlicherweise als elektoraler Unfall angesehen wurde. Spätestens die knappe Abwahl und die für europäische BeobachterInnen absurde Weigerung Trumps, das Ergebnis anzuerkennen, verdeutlicht das horizontale Auseinanderklaffen des Landes in zwei annähernd gleich große Lager.
Die vertikalen Kluften verlaufen deutlich anders und sind in einschlägigen Forschungen zur Verteilung von Einkommen und Vermögen ersichtlich:
„Nach einer langen Periode sinkender Ungleichheit steigt [die Vermögenskonzentration] seit 1980 laut Thomas Pikettys World Inequality Report wieder stetig an und nähert sich dem Vorkriegsniveau. Ein Prozent der Bevölkerung besitzt fast 42 Prozent des gesamten Vermögens. Damit einher geht eine wachsende Politikverdrossenheit: Die Akzeptanz des US-Parlaments ist laut Umfragen des renommierten Gallup-Instituts so niedrig wie noch nie in der Geschichte der USA.“[12]
Die Spaltung eines Landes manifestiert sich damit auch in einer sinkenden Akzeptanz von Regierung und Parlament bis hin zur Verweigerung der Anerkennung des staatlichen Gewaltmonopols. Wozu der systematisch aufgehetzte, jederzeit gewaltbereite Teil einer Nation fähig ist, hat die Erstürmung des Capitol Hill und des Repräsentantenhauses am 6. Jänner 2021 gezeigt. Es braucht lediglich einen Führer, der sich bis zur letzten Konsequenz als solcher versteht, um eine vermeintlich gefestigte Demokratie von einem Tag auf den anderen in den Totalitarismus zu kippen. Der „Sturm“ auf den deutschen Reichstag am 29. August 2020 sowie der Streit um die Definition dieser Ereignisse[13] verdeutlicht, dass man das Undenkbare auch hierzulande lieber mitdenken sollte.
Die Mischung aus Corona-LeugnerInnen und QuerdenkerInnen, VerschwörungstheoretikerInnen, ImpfskeptikerInnen, Rechtsradikalen und Leuten, die an die heilende Wirkung von Elfen glauben, mag mitunter lächerlich erscheinen; sie zu vernachlässigen, wäre ein fataler Fehler. So wenig Lust das Establishment hat, sich mit diesen Menschen auseinanderzusetzen, so notwendig erscheint es mir zu sein. Ignoranz oder gar Verachtung verstärken bei den Betroffenen den Eindruck, dass „die da oben“ ohnehin keine Ahnung von den Lebensverhältnissen der kleinen Leute haben, und nähren die Anschlussbereitschaft an noch so wirre Heilsversprecher. Heimatlose docken dort an, wo das Versprechen ausreicht, wieder oder zum ersten Mal „Teil von etwas“ zu werden.
Noch einmal Hannah Arendt: „Was moderne Menschen so leicht in die totalitären Bewegungen jagt, … ist die allenthalben zunehmende Verlassenheit. Es ist, als breche alles, was Menschen miteinander verbindet, in der Krise zusammen.“[14]
Ich habe das an anderer Stelle so formuliert:
Ohne Teilhabe keine Heimat
Menschen mit sogenannten Behinderungen können an der Gesellschaft nur eingeschränkt teilhaben. Egal ob arbeitslos, krank, alt oder in ihrer Ausstattung anderweitig „defizitär“, gehören sie, mitunter von heute auf morgen, nicht mehr dazu, jedenfalls nicht mehr ganz, und erleben auf das Schmerzhafteste, wie die Leistungsgesellschaft auf Mangel und Makel reagiert. Wenn dieser Zustand dann auch noch länger andauert, verlieren die Betroffenen die beiden wichtigsten, unantastbaren, gleichzeitig verletzlichsten Güter von allen: Selbstwert und Würde, am Ende auch jede Form von Beheimatung.
Genau darum hat Thomas Vogel (Anm.: ein verstorbener Sozialarbeiterkollege und begnadeter Vordenker) soziale Arbeit immer auch als politische Arbeit, und ich Politik immer auch als soziale Arbeit verstanden. Deshalb muss der Kampf um Würde, um Beheimatung für jene Menschen, die dieses Fundamentes beraubt wurden, bedingungslos sein, im Sinne der Parteilichkeit für die Betroffenen. Die Würde des Menschen gründet auf seinem „Menschsein“. Würde ist ein Anspruch auf Achtung und Wertschätzung, die jedem Menschen unabhängig von Leistung und Verdienst zukommt; sie ist unveräußerbar.
Ohne Würde, ohne Beheimatung mag man existieren können, wirklich leben kann man nicht.
„Die wirkliche Genesis ist nicht am Anfang, sondern am Ende, und sie beginnt erst anzufangen, wenn Gesellschaft und Dasein radikal werden, das heißt sich an der Wurzel fassen. Die Wurzel der Geschichte aber ist der arbeitende, schaffende, die Gegebenheiten umbildende und überholende Mensch. Hat er sich erfasst und das Seine ohne Entäußerung und Entfremdung in realer Demokratie begründet, so entsteht in der Welt etwas, das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat.“ (Ernst Bloch)
Das oben erwähnte Andocken-Lassen beginnt damit, die Menschen wieder ernst zu nehmen, ihnen zuzuhören, ihnen das Gefühl zu geben, dass es „uns da oben“ nicht egal ist, wie und wovon sie leben. Tun wir das nicht, wird ein guter Teil der Bevölkerung nicht mitmachen, weder bei der Pandemiebekämpfung noch bei der Impfung und schon gar nicht bei der Rettung der Welt. Wer nämlich am 25. des Monats keine Ahnung hat, wovon er am 26. seinen Einkauf bezahlen soll, dem geht die Eisschmelze im kommenden und allen Folgejahren, pardon, am Arsch vorbei.
Zu den vollständig und auf das Schändlichste Abgehängten gehören übrigens zuvorderst die Menschen in den Elendslagern in Griechenland, im Libanon und überall anderswo, deren Flucht vor Hunger, Krieg und Elend das einzige „Verbrechen“ ist, dessen sie, die Einlass begehren, um Schutz zu finden, von Seiten der Haus- und Burgherren beschuldigt werden – ein Vorwand, um ihnen zu verwehren, was am ehesten unter „Erste Hilfe“ fällt, eine Hilfe, die selbst in den finstersten Zeiten Europas, während der Weltkriege I und II, selbstverständlich war, auch wenn auf den Schlachtfeldern noch so erbittert gemordet wurde.
Eine historische Schande – so wird das in Zukunft gelesen werden!
Und dann: „Die Wirtschaft“
Die einen möchten zurück zum „guten Alten, wie es vorher war“, manche ahnen, dass das so nicht gehen wird, ohne aber schon genau zu wissen, wie sonst. Wenn allerdings die mit Sicherheit nicht zu den ökologischen Vorreitern gehörenden Briten die Zulassung von Fahrzeugen mit Verbrennungsmotoren ab 2030 verbieten wollen[15], dann findet der Transformationsprozess schneller statt, als viele glauben.
Und weil „die Wirtschaft“ mindestens so ausdifferenziert und vielfältig ist wie „die Gesellschaft“, wird diese Transformation sehr unterschiedlich sein, unterschiedlich schnell, unterschiedlich erfolgreich, unterschiedlich innovativ. Entziehen wird sich keine Branche können, nicht einmal die Automobilindustrie, auch wenn das dort einige noch glauben. Das einzig Gemeinsame könnte gleichzeitig auch der dramatischste Einschnitt sein: Das Wachstumsdogma („Mindestens drei Prozent Wirtschaftswachstum, sonst geht’s rückwärts!“) ist nicht länger aufrechtzuerhalten. Und nein, das sogenannte „grüne Wachstum“ wird es auch nicht sein.
Immer mehr an endlichen Ressourcen zu verbrauchen, um immer mehr Dinge zu produzieren, die in immer schnelleren Zyklen wieder weggeworfen werden, ohne wirklich gebraucht worden zu sein – das geht sich nicht aus.
Aber wie soll das funktionieren, sich vom Wachstumsdogma zu verabschieden? Diese Frage ist nur in Teilen beantwortet. Ich habe sehr viel Zeit damit zugebracht, Literatur zu studieren, die sich diesem Themenkreis widmet. Die Frage, wie öffentliche Haushalte bei steigenden Ausgaben und steigenden Schulden finanziert werden sollen, wenn nicht gleichzeitig die (Steuer-)Einnahmen steigen, darauf habe ich – und haben viele ForscherInnen – keine endgültig befriedigende Antwort gefunden. (Ja, Vermögenssteuern, aber die allein werden nicht ausreichen).
Regionaler, intelligenter, smarter, weniger vulnerabel, weniger Shareholder Value und mehr Stakeholder Value: Das funktioniert in manchen Bereichen schon ganz prächtig, ob das flächendeckend und übergreifend auch gelingt, dieser Nachweis muss noch erbracht werden. Dennoch: Als in der Vorarlberger Textilindustrie 25.000 Arbeitsplätze wegfielen, weil die klassischen Webereien, Stickereien, Spinnereien innerhalb weniger Jahre verschwanden, ist es gelungen, diese Arbeitsplätze zu substituieren und in anderen Branchen zu schaffen. Die Brachen der Textilindustrie wurden zu modernen Heimsttätten neuer Firmen, Dienstleister, Kulturveranstalter. Eine Erfolgsgeschichte! Was lehrt uns das? Veränderung, die katastrophal erscheint, muss nicht in der – für die Betroffenen sehr realen – Katastrophe stecken bleiben.
Dies ist im Übrigen ein Plädoyer dafür, Europa als Produktionsstandort zu erhalten. Als reiner Dienstleister und als Disneyland für reiche AsiatInnen werden wir nicht überleben. Grundvoraussetzung dafür scheint mir zu sein, dass Gewerbe und Industrie, Handel und Tourismus, EPU und mittelständische Unternehmen imstande sind zu definieren, wie und wofür und mit welchem sozialen und ökologischen Impact, mit welchen MitarbeiterInnen und zu welchen Arbeitsbedingungen sie diese Herausforderung bewältigen wollen. Die bevorstehende Veränderung der „Wirtschaft“ wird ähnlich dramatisch sein wie die erste und zweite Industrielle Revolution. Angst haben sollte man davor nicht.
Einschub: Finanzwirtschaft
Aus meiner Sicht steht fest: Wenn sich die Machtverhältnisse von Finanz- und Realwirtschaft nicht zugunsten Letzterer umdrehen, wird alle Anstrengung auf anderen Schlachtfeldern vergebliche Liebesmüh’ sein. Wenn schon das Internet den Stromverbrauch in schwindelnde Höhen treibt[16], dann sollte man beispielsweise Kryptowährungen höchst kritisch unter die Lupe nehmen: Der Stromverbrauch von Bitcoin ist größer als jener der gesamten Schweiz.[17] Ähnliches gilt für den Hochfrequenzhandel an den Börsen.[18]
Die augenblicklichen Verhältnisse sind nicht irgendwie zufällig entstanden, sondern sind die Folge von Wegen, die frei gemacht, Schranken, die beseitigt, und Regeln, die abgeschafft worden sind, bis hin zu den Bilanzierungsvorgaben für Banken. Das Motiv dahinter ist so simpel wie biblisch alt und wurde von Mahatma Gandhi auf den Punkt gebracht: “The world has enough for everyone’s need, but not enough for everyone’s greed.” Diese Gier hat sich längst der Steuerung und Lenkung entzogen. Sie wohnt dort, wo es keine Steuern gibt, wo Milliardengewinne unangetastet bleiben, entkoppelt von realer Wirtschaft wie realer Welt. Ihr Geschäftsmodell ist das Monopol, vor allem das Monopol auf Daten: Bewegungsprofile, Einkaufsverhalten, Gesundheitszustand, sexuelle Vorlieben, Essgewohnheiten, Aufenthaltsdauer auf Websites, Klick-Routinen, Social-Media-Profile, Logfiles, Konsum legaler und illegaler Substanzen, Glaubensbekenntnis bis hin zu Menge und Zusammensetzung des Morgenurins. Es geht um Macht und Kontrolle, die als Vehikel dienen, astronomische Profite zu generieren. Der Vertrag zwischen NutzerIn (besser: DatenlieferantIn) und Dienstleister wird zur Verfügung, die nicht ausgehandelt, sondern diktiert wird. Am Ende, am Anfang: Es gibt keine Alternative zur Zuversicht Angst ist ein schlechter Ratgeber. Sie ist diffus. Sie lähmt. Furcht ist besser, weil konkreter. Aber zu Tode gefürchtet ist auch gestorben. Wir haben gelernt, das Feuer zu beherrschen. Die gemeinsame Jagd einzuüben, den Ackerbau, die Viehzucht, das Schmieden. Die Umlaufbahnen der Planeten zu berechnen, ganz ohne Computer. Pyramiden zu errichten, die chinesische Mauer, Kathedralen. Dampfmaschinen, Waschmaschinen (unterschätzt!), Kraftwerke zu konstruieren. Psychoanalyse, moderne Medizin, Erziehungswissenschaften zu erfinden. Alles Errungenschaften, von Menschen geschaffen. Es wäre ein lächerliches Scheitern, wenn es uns nicht gelingen würde, in den nächsten Jahren das hinzubekommen, was mit „ökologischer Transformation“ unzureichend beschrieben und mit „sozial-ökonomischer Rückkehr zur Teilhabe aller“ ebenso unzureichend gegengezeichnet ist. Ein unausgesprochener Pakt, ähnlich der Übereinkunft, die es bei der Bekämpfung der Corona-Pandemie gegeben hat. Mit derselben Entschlossenheit und derselben Wut, das Unannehmbare nicht hinzunehmen, derselben Macht an Wissen und Geld. Immer im Bewusstsein dessen, dass nichts davon gelingen kann ohne die Beendigung der grotesken Ausbeutung des globalen Südens, ohne die Beseitigung der race class gender oppression sowie die Zuerkennung der universalen Menschenrechte an diejenigen, die ihrer beraubt worden sind oder sie niemals hatten.[19] Eine Utopie, gewiss. Aber wann, wenn nicht jetzt, muss das Utopische gedacht werden!? „Es gibt Krisenzeiten, in denen nur das Utopische realistisch ist“ (George Steiner).
Eben deshalb gibt es zur Zuversicht keine Alternative. Und wenn sie begleitet wird von der Fähigkeit zu lachen, von der Selbstkritik und der Kritikfähigkeit, von der Lust, für etwas zu streiten und nicht nur mit jemandem, von der Absage an jede Form von Hass, dann fehlt nur noch eine Zutat, um zu meistern, was unbezwingbar erscheint wie der Mount Everest vor seiner Erstbesteigung: die Liebe zum Leben, zu den Menschen und zur Welt.
Damit am Ende nicht nur Pathos übrig bleibt und die nicht zu entscheidende Frage, ob die zivilisierte Menschheit überleben wird oder der Planet oder bestenfalls beide, eine letzte Weisheit des unvergleichlichen Arno Schmidt:
„Das Verläßlichste sind Naturschönheiten. Dann Bücher; dann Braten mit Sauerkraut. Alles andre wechselt und gaukelt.“
Johannes Rauch, im Jänner 2021
[1] Hannah Arendt, What is Freedom, in: Between Past and Future: Eight Exercises in Political Thought. New York, Penguin 1993, S. 169. Deutsch von Bernhard Schmid. [2] Franz Maciejewski, Melencolia 2020, in: Lettre international 131 (Winter 2020), S. 15 ff. [3] https://lieferkettengesetz.de/wp-content/uploads/2020/06/Briefing-Juni2020_Lieferketten-und-Corona_final.pdf [4] https://www.suhrkamp.de/buecher/wasser_und_zeit-andri_snaer_magnason_17868.html [5] https://www.republik.ch/2020/03/23/auch-die-treibhausgase-wachsen-exponentiell [6] https://www.awi.de/im-fokus/ozeanversauerung/fakten-zur-ozeanversauerung.html [7] https://www.nationalgeographic.de/tiere/2019/05/artensterben-ohne-die-natur-haben-wir-keine-zukunft [8] https://www.europarl.europa.eu/doceo/document/P-9-2020-004942-ASW_DE.html [9] https://www.zeit.de/digital/datenschutz/2019-09/demokratie-proteste-digitale-ueberwachung-china-hongkong/seite-2 [10] https://www.quarks.de/gesellschaft/wie-china-seine-buerger-mit-einem-punktesystem-kontrollieren-will/ [11] https://www.ris.bka.gv.at/GeltendeFassung.wxe?Abfrage=Bundesnormen&Gesetzesnummer=10010265 [12] https://www.zeit.de/wirtschaft/2018-01/vermoegensverteilung-usa-donald-trump-feudalismus [13] https://www.dw.com/de/kommentar-streit-um-den-sturm-auf-den-reichstag/a-54846037 [14] Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totalitärer Herrschaft: Antisemitismus, Imperialismus, Totalitarismus. München, Piper 1986, S. 978. [15] https://www.tagesschau.de/wirtschaft/grossbritannien-verbrennungsmotoren-2030-101.html [16] https://www.faz.net/aktuell/politik/klimaneutralitaet-der-eu-warnung-vor-stromverbrauch-des-internets-16536567.html [17] https://www.basicthinking.de/blog/2019/07/16/bitcoin-stromverbrauch-vergleich/ [18] Sehr erhellend dazu: https://monde-diplomatique.de/artikel/!327186 [19] https://www.un.org/depts/german/menschenrechte/aemr.pdf
Comments