- Johannes Rauch
- 31. Jan. 2021
„Ich könnte kotzen!“
„Da ist kein Unterschied mehr zu Kickl!“
„Ihr habt alles verraten, was mir wichtig war, nie wieder wähle ich euch!“
Das schreiben uns manche. Denken werden es noch viel mehr.
Ihr seid empört? Ich bin es auch!
Wenn ich mich an dieser Stelle entschuldige, ist das ehrlich gemeint. Wir konnten die Abschiebung von Kindern mitten in der Nacht, mitten in einer Pandemie, in ein Land, das sie nicht kennen, nicht verhindern. Insofern haben wir in den Augen vieler Menschen als Regierungspartei versagt. Dennoch wird Empörung allein nichts verändern. Gar nichts.
Ich möchte daher einen kurzen Moment über den Anlassfall hinausblicken.
Was mich an der Debatte rund um die jüngsten Abschiebungen verblüfft, ist die überaus schlichte Idealvorstellung mancher, wie „Regieren“ funktioniert.
Diese Vorstellung lässt sich in etwa so beschreiben:
Eine Koalitionsregierung besteht darin, dass zwei – ungleich große – „Partner“ ein Regierungsprogramm abarbeiten, das in langen Verhandlungen festgelegt und beschlossen worden ist.
Beim Regieren handelt es sich um einen technisch-rationalen Akt, der ähnlichen Gesetzmäßigkeiten folgt wie die Schwerkraft, die Erledigung einer Einkaufsliste oder das morgendliche Zähneputzen.
Das Einstimmigkeitsprinzip im Ministerrat bedeutet, dass man sich bei allem einig ist oder sich einigen muss. Wenn Parlament und Regierung ein Vorhaben beschlossen haben, wird das Geld dafür vom Finanzminister freigegeben. Weil es ja beschlossen ist.
Bundesländer setzen um, was Nationalrat und Bundesregierung entschieden haben.
Regieren ist unterm Strich so ähnlich wie ein Unternehmen zu leiten, eine Wohnanlage zu bauen oder einen Gemüsegarten anzulegen.
Dass politisch durchschnittlich oder gar nicht interessierte Menschen diese Vorstellung haben: nachvollziehbar. Dass die Opposition so tun muss, als hätte sie diese Vorstellung wider besseres eigenes Erfahrungswissen: eh klar und „part of the game“.
Dass Teile der Grünen und ein großer Teil der Social-Media-Community die nachfolgend beschriebene Vorstellung haben, ist hingegen ein veritables Problem für uns Grüne und hilfreich für die ÖVP, die Derartiges für geradezu absurd hält, weil hinderlich in der Durchsetzung ihrer Interessen.
Denn die Realität stellt sich für die Grünen in etwa so dar:
Regieren ist ein Handwerk, das gelernt sein will. Wenn du das erste Mal in eine Regierung kommst, glaubst du, du kannst es eh. Binnen kurzer Zeit bemerkst du: Du kannst es nicht und du musst schnell lernen; wenn gerade eine Pandemie ausgebrochen ist, noch schneller.
Als Erstes lernst du, dass alles, was in Regierungsverhandlungen vereinbart wurde, noch einmal verhandelt und durchgesetzt werden muss. Wenn du das erreicht hast, bist du immer noch vom Finanzminister abhängig, und das kann dauern. Du erkennst: Gestaltungsmöglichkeit in den „eigenen“ Ressorts – ja, in denen des Gegenübers mitbestimmen zu wollen – vergiss es.
Im Werkzeugkasten deines Koalitionspartners befindet sich vom Skalpell bis zum Vorschlaghammer das gesamte Repertoire der Machtpolitik, mit dem du von der ersten Sekunde an bearbeitet wirst. Damit wird dir beigebracht, dass es um folgende Dinge geht: „Wir Türkise regieren, um unsere Interessen durchzusetzen. Getan wird, was unsere Umfragewerte nach oben bringt. Bedient werden die Wirtschaft, die Bauern, die Märkte. Wir wollen nicht die Welt oder das Klima retten. Mit „Soziales, Bildung, Wissenschaft, Kultur“ kann man weder Wahlen gewinnen noch Geld verdienen, das interessiert uns also nicht.
Dass jetzt grad das Gesundheitsministerium wichtig ist: ein bisschen lästig, aber irgendwie auch gut für uns, weil’s im Zweifel der Anschober vergeigt. Dass es keine Abschiebungen mehr geben wird, steht in keinem Gesetz und nicht im Koalitionsvertrag, also was wollt ihr eigentlich!?“ So denkt die ÖVP.
Das klingt vereinfacht, zugespitzt und polemisch. Nur, es ist so einfach.
Man sollte übrigens nicht den Fehler machen zu glauben, das sei anderswo – etwa bei der SPÖ Wien – komplett anders.
Nun kann man sich darüber empören, dass die türkise Welt ist, wie sie ist. Man kann sich in langen, erbitterten Debatten darüber streiten, „ob sich das lohnt“ oder „ob man sich noch in den Spiegel schauen kann“. Man kann, nach einem Jahr – dem ersten! – in der Regierung den Bettel hinschmeißen und sagen: „Nö. Mit uns nicht.“
Oder man kann schneller lernen, besser werden, seinen Werkzeugkoffer aufstocken und begreifen, dass Regieren ein ständiges Ringen mit dem Gegenüber und ein fortlaufendes Kämpfen um das Eigene bedeutet.
Was man nicht tun sollte, ist verblüfft in der Produktionshalle des Gegenübers (des „Koalitionspartners“) zu stehen und zu glauben, dass man innerhalb eines Jahres dieselbe perfekt geschmierte und kraftstrotzende Machtmaschinerie aufbauen kann – abgesehen davon, dass einem das zuwider ist.
Das Risiko zu scheitern ist groß, weil es die Erwartungshaltungen an uns auch waren. Die Enttäuschung ist deshalb logisch, der Zorn verständlich. Wählerinnen und Wähler bewerten uns an dem, was sie wahrnehmen. Wahrgenommen wird, was gedruckt, gesendet, gepostet, erzählt wird. Alles andere existiert nicht, auch wenn es erreicht und erstritten wurde.
Wer regiert, muss liefern – und offensichtlich war es bisher zu wenig, um aufzuwiegen, was diese brutale Abschiebung angerichtet hat.
Das haben wir zu akzeptieren.
Was mir nicht leichtfällt zu verstehen, ist die nahezu religiöse Aufladung. Erwartet werden Bekehrung (der ÖVP), Erlösung (von Pein und Peinlichkeit der FPÖ) und Rettung (der Welt und des Klimas). Gelingt das nicht in Jahresfrist: Sündenfall (Schuld); Strafe, Buße und Verbannung (aus dem Parlament).
Nachdem ich das nun gesagt habe:
Aufgeben und Aussteigen ist für mich keine Option.
Die romantische Illusion, dass mit Neuwahlen alles besser würde, teile ich nicht.
Zudem hielte ich es für höchst verantwortungslos, würden wir Grüne mitten in einer Pandemie mit dramatischen ökonomischen und psycho-sozialen Folgen die Regierung verlassen.
Die staatspolitische Verantwortung der ÖVP (so noch vorhanden) liegt darin, uns nicht dazu zu zwingen, indem sie die wenigen tragenden Fundamente dieser fragilen Koalition gezielt und absichtlich demoliert.
Ihr seid ernüchtert? Ich bin es nicht.
Nach nunmehr dreißig Jahren als Politiker kann ich bestätigen, dass Max Webers Definition dieses Berufs sehr stimmig ist: „Politik bedeutet ein starkes langsames Bohren von harten Brettern mit Leidenschaft und Augenmaß zugleich.“
Verlierst du die Geduld, die Leidenschaft oder das Augenmaß, dann ist es Zeit zu gehen. Es vorher zu tun, wäre Kapitulation.
- Johannes Rauch
- 27. Jan. 2021
- Johannes Rauch
- 22. Jan. 2021
Heute unterzeichnen Tirol und Vorarlberg im Bundesministerium die Grundsatzvereinbarung zur Einführung des 1-2-3-Klimatickets. Damit haben sich – mit Salzburg, das waren die ersten – die drei westlichen Bundesländer zu nichts weniger bekannt als zu einem Quantensprung, den der öffentliche Verkehr für die Kundinnen und Kunden machen wird, was Einfachheit, Leistbarkeit, Angebot und Qualität angeht.
Die erste Stufe, nämlich österreichweit um 3 Euro pro Tag mit allen öffentlichen Verkehrsmitteln unterwegs sein zu können, soll noch heuer umgesetzt werden. Das ist ein Kraftakt, den Außenstehende gar nicht verstehen können. Nur wer den Dschungel an Tarifsystemen, Abrechnungsmodalitäten, Fahrscheinautomaten aller Art, Gegen- und Weiterverrechnungen und die komplett unterschiedlichen Zugänge der einzelnen Bundesländer zum öffentlichen Verkehr und seiner Organisation kennt, kann das nachvollziehen.
Nun höre ich hin und wieder: „Mich als Fahrgast interessiert aber nicht, wie das im Hintergrund organisiert ist, ich will beste Qualität zum besten Preis!“ – Recht hat der Fahrgast!
Es ist Aufgabe der Politik, dieses Dickicht an Zuständigkeiten und Puzzleteilen zu entwirren und auf die Reihe zu bekommen. Mehr als ein Dutzend Verkehrsminister*innen ist bislang an dieser Aufgabe gescheitert. Am Kirchturmdenken, an Eitelkeiten, an der Gleichgültigkeit, an der Finanzierung und an der österreichischen Realverfassung: „Ja mei, geht halt nicht, kann ma nix machen, zu kompliziert!“
Wien hat erfolgreich vorgezeigt, was passiert, wenn man im eigenen Wirkungsbereich ein 365-Euro-Jahresticket einführt, Vorarlberg etwas später auch: Es wird so gerne genommen, dass die Anzahl der Jahreskartenbesitzer*innen in Vorarlberg innerhalb von sechs Jahren von 50.000 auf 75.000 gestiegen ist, die Anzahl der Fahrten allein auf der Schiene um jährlich zehn Prozent.[1]
„Schaffe das Angebot, und du bekommst die Nachfrage!“
Wo früher Haltestellen und Bahnhöfe standen, die aussahen, als wären sie Drehorte für einen Spionagethriller zu Zeiten des Kalten Krieges – kalt, dunkel, nicht barrierefrei, mehr Hürde als Einladung, einen Zug zu besteigen –, finden sich heute moderne Mobilitätsdrehscheiben: hell, sauber, von hoher Aufenthaltsqualität; Bus, Bahn, Fahrradabstellanlagen, Car-sharing – alles aus einem Guss.
Die Fahrplan-Vorgabe des Landes: Viertelstundentakt im Ballungsraum, Halbstundentakt izu Spitzenzeiten auch in die Talschaften hinein, Stundentakt auch in den entlegensten Winkeln Vorarlbergs.
Die Mobilität wird sich verändern: On demand, smart, App-basiert, mit viel mehr Fahrrad und viel mehr Öffis, mit viel weniger Auto und wenn, dann nach der Devise: „Nutzen statt besitzen“.
Die Voraussetzungen dafür müssen wir jetzt schaffen. Ist die Nachfrage erst da und das Angebot passt nicht, hat die Politik versagt.
Das 1-2-3-Klimaticket ist ein Meilenstein auf dem Weg in die Mobilitätszukunft, und ich bin froh und auch ein bisschen stolz, einen Beitrag dafür leisten zu können.