- johannes rauch
Die Corona-Pandemie hat die Menschen schwer belastet, die hohe Inflation hat das noch verstärkt. Viele Menschen fühlen sich abgehängt, vom Staat nicht mehr vertreten. Drei Jahre nach Beginn der Pandemie wird es Zeit für ein neues Miteinander. Wir müssen ernsthaft reden, wie wir unser Land gemeinsam gestalten. Dafür starten wir einen Dialogprozess.
Sabine ist 27 und richtig sauer. Mit ihrem Sohn Jakob lebt sie in einer kleinen Mietwohnung in Niederösterreich. Sabine ist sauer wegen der Mieterhöhung, der Nachzahlung beim Strom, auch wegen der fehlenden Kinderbetreuung. Aber vor allem ist sie sauer wegen Corona. Eine Zeit lang, sagt sie, habe sie die Maßnahmen verstanden und mitgetragen … aber dann: „Ihr habt uns erst eingesperrt und dann verarscht“, sagt sie.
Ich bin Sabine Anfang dieses Jahres bei meinem Besuch in einem Sozialmarkt begegnet. Sie hat ihren Frust abgelassen, ich als Gesundheitsminister kam ihr da gerade recht.
Sabine ist nicht allein. Nur mehr ein Drittel der Menschen findet, dass das politische System in Österreich gut funktioniert. Das Vertrauen in die Bundesregierung und das Parlament ist ähnlich gering. Drei Viertel finden, dass „die Politik Menschen wie mich oft als Menschen zweiter Klasse behandelt“. (Quelle: Sora Demokratiemonitor, www.demokratiemonitor.at)
Auch die Belege für Postenschacher und Korruption in den Chats nach Ibiza zeigen Wirkung. Der Frust entlädt sich bei Wahlen, mit hohen Stimmenanteilen für die angeblichen Protestpartei FPÖ, die ihr Korruptionspotenzial bei den vergangenen Regierungsbeteiligungen hinlänglich unter Beweis gestellt hat.
Das alles geht in Österreich, einem der reichsten Länder der Erde, an die Substanz der Demokratie. Ein Jahr nach dem Überfall russischer Truppen in der Ukraine, drei Jahre nach dem Beginn der Corona-Pandemie: Es ist Zeit für einen Neustart.
Krieg, Energiekrise, Teuerung, Klimakrise: All das hat Spuren hinterlassen. Wir müssen darüber reden, wie wir GEMEINSAM dieses Land gestalten möchten.
Ein Besuch in Finnland vergangene Woche hat mich tief beeindruckt: „Finnland is a society based on trust“, hieß es dort. Dieses Vertrauen basiert auch auf Transparenz: eine Einsichtnahme in ALLE staatlichen, behördlichen Akte und Datenregister, inklusive Steuerakten (!) ist für jede:n möglich.
Ehrliche, offene Kommunikation ist die Grundlage für Vertrauen. Es ist unsere Aufgabe als Politiker:innen, dass dieses Vertrauen (wieder) entstehen kann. Ein Appell wird dafür nicht reichen. Was wir brauchen, ist ein breiter öffentlicher Diskurs unter Beteiligung möglichst vieler Menschen. Da geht es um die Möglichkeit, Dampf abzulassen, gehört zu werden, Zukunft zu gestalten.
Wenn wir nicht darüber reden, streiten, nachdenken, werden wir die Krisen mit ihren disruptiven Entwicklungen nicht überwinden.
Diese Kommunikation braucht Formate: keine Veranstaltung der „Großkopferten“ in einem schicken Kongresszentrum. Wir müssen dort hingehen, wo es weh getan hat und noch immer weh tut. Wir brauchen Bürg:innenbeteiligung in neuer Form. Einen Dialogprozess.
Dort, wo wir Mist gebaut haben, müssen wir es sagen.
Dort, wo die Wissenschaft zu Unrecht attackiert wurde, müssen wir für sie streiten.
Dort, wo manche den Eindruck haben, ungerecht behandelt worden zu sein, wir aber glauben, unser Bestes getan zu haben, müssen wir reden.
So kommen wir raus aus der Krise. So können Wunden heilen. So kann ein neues gemeinsames Ganzes entstehen.
Wir stehen an einer Zeitenwende. Unsere Demokratien, unsere Art und Weise, wie wir leben, als offene, als demokratische Gesellschaften, sehen sich Angriffen gegenüber. Algorithmen in sozialen Medien, Trollfarmen und Desinformation, gesteuert von Feinden der Demokratie und Rechtsstaatlichkeit wollen uns eine neue, konstruierte Wirklichkeit vormachen. Ihr Ziel: dass wir uns streiten, uns spalten, in die Haare bekommen, dass Risse durch unsere Familien, Vereine, Freundschaften gehen. Dass wir uns bekämpfen und auseinanderfallen. Dass wir einander hassen, anstatt danach trachten, uns gegenseitig in Frieden leben zu lassen, so, wie wir es, jede:r für sich, für uns entscheiden. Das kann und darf nicht sein.
Deshalb: Lasst uns ins Reden kommen! Um unserer Zukunft willen, um die Zukunft unserer Kinder und Enkelkinder willen.
Impfstoffe schützen. Sie bewahren Menschen davor, schwer zu erkranken oder zu sterben. (Tiere auch, aber um die geht es hier jetzt nicht.) Masern, Polio, Pocken oder Tollwut, um nur einige zu nennen, waren einst gefürchtete Krankheiten, doch sie haben dank der Impfung ihren Schrecken verloren. Die Impfstoffe gegen Corona haben geholfen, das Risiko von schweren Verläufen, Spitalsaufenthalten und Long Covid deutlich zu reduzieren.
Die Produktion, Beschaffung und Verteilung der Covid-Impfstoffe in der Europäischen Union war ein Kraftakt, der von großer Solidarität getragen war. Mit HERA wurde eine eigene Beschaffungsagentur eingerichtet, die Einkauf und Verteilung organisierte, unabhängig davon, wie groß, mächtig oder finanzkräftig ein Mitgliedsland ist.
Der Grundgedanke ist rasch erklärt: Eine zentrale Beschaffung stärkt die Position des Einkäufers gegenüber dem Verkäufer. Den großen Pharmakonzernen sitzt eine mächtige Institution gegenüber, die einen Markt von 450 Millionen Menschen repräsentiert. Dadurch ist es gelungen, einheitliche Preise und gerechte Verteilung sicherzustellen. Das hat im Großen und Ganzen funktioniert.
Als die ersten Affenpockenfälle auftauchten und es klar wurde, dass auch dagegen eine zumindest ausreichend wirksame Impfung existiert, wurde versucht, denselben Mechanismus erneut anzuwerfen: Einmeldung des Bedarfs und Bestellung über HERA, dieselben Bedingungen für alle, gerechte Verteilung.
Diesmal hat es nicht geklappt. Einzelne Mitgliedsstaaten begannen parallel zur Bestellung über HERA bilaterale Verhandlungen mit den Herstellern, um rascher an Impfstoffe zu kommen als andere. Diese Chance nahm der Hersteller dankbar an: Er bot den Mitgliedsstaaten an, jenseits von HERA direkt zu bestellen, natürlich zu höheren Preisen. Die Lieferung über HERA verschob sich auf unangenehme Weise immer weiter nach hinten. Österreich etwa wurde die Lieferung der längst bestellten 30.000 Dosen erst für Herbst 2023 in Aussicht gestellt.
Die logische Folge: Alle begannen, direkt zu verhandeln und sich Impfstoff zu beschaffen. Einziger Gewinner: der Hersteller. Aus Sicht der börsennotierten Pharmaunternehmen nicht nobel, aber „marktlogisch“. Aus Sicht der Mitgliedsstaaten ein Trauerspiel. Leider.
Wir in Österreich haben zunächst ganz auf dieses Solidarsystem gesetzt – wissend, dass wir als kleines Land schlechte Karten in bilateralen Verhandlungen mit einem Hersteller haben. Inzwischen sind auch wir längst mit anderen Staaten im Gespräch über zusätzliche Kontingente.
Diese Woche konnte HERA eine Lieferung von immerhin 170.000 Impfdosen für die EU noch in diesem Jahr aushandeln. Vielleicht besteht noch Hoffnung auf eine solidarische Lösung für die EU.
- johannes rauch
Warum die Sanktionen gegen Russland (hoffentlich) eine soziale Krise in Europa verhindern
Wirtschaftskammerpräsident Harald Mahrer sorgt sich um den Wohlstand und den sozialen Frieden in unserem Land. Das ist ehrenwert, dieses Anliegen verbindet uns.
Allerdings sieht er die Sanktionen gegen Russland als Gefahr für Wohlstand und sozialen Frieden. Denn jene seien mit „nur einer Gehirnhälfte gedacht worden“. Und leider enden da schon wieder die Gemeinsamkeiten.
Herr Mahrer irrt. Aber da ist er nicht der Einzige.
Ich habe mich auch geirrt. Weil ich es für denkunmöglich gehalten habe, dass Putin die gesamte Ukraine angreift und offenbar auch bereit dazu ist, das Risiko einer Eskalation mit der NATO in Kauf zu nehmen. Alle, die Putin das nicht zugetraut haben, haben sich geirrt. Schlecht wäre es, sich ein weiteres Mal täuschen zu lassen und zu glauben, Putin würde es irgendwann gut sein lassen und sich mit Krim und Dombass zufriedengeben oder mit irgendwelchen territorialen Zugeständnissen bei „Verhandlungen“.
Meine Überzeugung, unter Inanspruchnahme beider Gehirnhälften: Es ist richtig, Waffen an die Ukraine zu liefern, auch wenn mir das zuwider ist. Es ist richtig, die schärfstmöglichen Sanktionen gegen Putin zu verhängen, auch wenn das einen hohen Preis für uns hat. Der politische und wirtschaftliche Preis wäre nämlich ungleich höher, würde Europa das nicht tun.
Wenn wir akzeptieren, dass kriegerische Landnahme unsanktioniert bleibt, weil man den eigenen Wohlstand, der (unter anderem) auf billigem Gas beruht, keinesfalls gefährden will, geben wir am Ende beides auf: Wohlstand und Zivilisation.
Ja, wir können uns Zeit kaufen, wenn wir die Ukraine – oder Teile davon – dem Despoten überlassen. Einen Winter vielleicht oder zwei? Putin wird die Wirtschaft seines Landes stabilisieren und seine Druckmittel jederzeit wieder nützen: Ihr wollt mein Gas? Ihr braucht das Getreide aus der Ukraine? Dann erfüllt meine Forderungen.
Sanktionen und die militärische Unterstützung für die Ukraine sind der einzige Weg, die politische Stabilität unseres Kontinents zu sichern. Sie sind auch der einzige Weg, sozialen Frieden zu sichern.
Wenn es nicht gelingt, die Korridore für Getreidelieferungen nach Nordafrika zu öffnen (ja, das hat mit dem Krieg zu tun), werden im nächsten Jahr Millionen ausgehungerter Menschen aus ebendieser Region, in der es zum Teil drei Jahre nicht geregnet hat und wo gerade die Notrationen halbiert werden, zur Flucht gezwungen sein. Das wäre eine humanitäre Katastrophe riesigen Ausmaßes.
Und ich hege die Sorge, dass die europäische Solidarität sich dann binnen Sekunden in Luft auflöst und die Stunde derer schlägt, die mit einer toxischen Mischung aus Energiekrise, Teuerung und Massenfluchtbewegungen ihr politisches Geschäft betreiben.
Den größten historischen Irrtum der Wirtschaftskammer (nicht zu verwechseln mit der Wirtschaft; viele Unternehmen sind wesentlich weiter, innovativer und offener als ihre Vertretung) können wir ohnehin nicht mehr ungeschehen machen: nämlich den Umstieg auf erneuerbare Energien 15 Jahre zu lange mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln blockiert zu haben.