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"Es gibt Krisenzeiten, in denen nur das Utopische realistisch ist."
(George Steiner)
  • Johannes Rauch
  • 31. Jan. 2022

Nebenvereinbarung: „Wie böse ist das denn!?“ – Keine Nebenvereinbarung: „Wie naiv kann man denn sein, bitte!?“


Ich muss einiges klarstellen.

Also: Die wesentlichen Teile eines Regierungsübereinkommens werden zwischen zwei (oder mehr) Koalitionspartnern in einem intensiven Prozess ausverhandelt, festgelegt und verschriftlicht. Darin enthalten sind die programmatisch-politischen Schwerpunkte, auf die zu einigen man sich durchgerungen hat.

Nicht enthalten ist in einem solchen Programm die Feinabstimmung des Räderwerkes, angefangen von der Besetzung von Aufsichtsräten, bis zu Bestellungen, die die Regierung vorzunehmen hat, von der EU-Kommissar:in über Richter:innen an den Höchstgerichten bis hin zu Führungsrollen der Verwaltung.

Nicht enthalten ist in einem solchen Programm, wie die Koalitionsparteien mit allfälligen unterschiedlichen Positionen und Konflikten umzugehen gedenken.

Doch die Regelung solcher Fragen – nennen wir sie „Machtfragen“ – ist für das Funktionieren einer Koalition entscheidend, insbesondere dann, wenn die Partner ungleich groß sind. Werden diese Fragen nicht vorab geklärt, könnte der größere Partner aufgrund seines höheren Gewichts jedes Detail, von dem im Koalitionsvertrag nicht die Rede ist, im Alleingang bestimmen. Damit würde sich aber jegliche Zusammenarbeit ad absurdum führen: daher “Sideletters”.

Außerhalb der Politik nennen sich diese “Sideletters” übrigens Nebenabsprachen und sind dermaßen normal und üblich, dass niemand je davon spricht, geschweige denn sie zu einem Skandal hochstilisiert. Wer behauptet, in Verhandlungen gehe es immer nur um Sach-, nie um Personalfragen, leidet unter mangelnder politischer Erfahrung. Und nein, diese Nebenvereinbarungen müssen nicht veröffentlicht werden. Denn sie sollen Vertrauen dort bilden, wo das Eis dünn ist. Vertrauen in heiklen Bereichen entsteht durch Vertraulichkeit. Das sind die zurzeit ungeschriebenen Gesetze von Macht und Politik, ob man sie mag oder nicht. Abhilfe könnte das von den Grünen seit langer Zeit geforderte Informationsfreiheitsgesetz schaffen, das die Abschaffung des Amtsgeheimnisses ebenso inkludiert wie ein umfassendes Transparenz- und Parteiengesetz. Daran arbeiten wir, seit diese Koalition ihre Arbeit aufgenommen hat (siehe das Regierungsprogramm der Regierung, S. 17–19; die entsprechenden Entwürfe stehen gerade in intensiver Verhandlung); doch ein solches Gesetzespaket ist ein Ergebnis, nicht die Vorausbedingung der Regierungsarbeit.


Die scheinbaren „Kuhhändel“


Erstens: Eva Schindlauer wurde ORF-Finanzdirektorin, zuvor war sie Geschäftsführerin des Senders ORF III. Stefanie Groiss-Horowitz, vormals Senderchefin von Puls4, übernahm den Posten der ORF-Programmdirektorin. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie nahe die beiden Frauen den Grünen stehen, an ihren Kompetenzen und ihren Fähigkeiten, den ORF weiterzuentwickeln, hege ich keinerlei Zweifel. Diese beiden Bestellungen sind wohl nicht zufällig erfolgt, und ich zweifle stark daran, dass die beiden Managerinnen unter einer anderen Regierungskonstellation zum Zug gekommen wären. Zur Frage vom Frauenanteil in Führungspositionen im ORF hat auch Lothar Lockl vor nicht allzu langer Zeit einiges gesagt.


Zweitens: Ich betrachte es als Verhandlungserfolg, dass den Grünen nun das Vorschlagsrecht bei der Wahl des ORF-Stiftungsratsvorsitzenden zusteht. Wer nun aufjault und von „Postenschacher“ spricht, hat sich das Prozedere um die Bestellung dieser Position offenkundig (noch) nicht genau angesehen. Der oder die Stiftungsratsvorsitzende wird von den Mitgliedern des ORF-Stiftungsrats gewählt. In diesem Gremium hält die ÖVP eine satte absolute Mehrheit; ohne eine Vereinbarung auf Koalitionsebene hätte die ÖVP also ganz einfach eine Kandidatin oder einen Kandidaten ihrer Wahl durchsetzen können. Sauber? Geht so. Sollte der ORF dem Einfluss der Parteipolitik entzogen werden? Selbstverständlich. Dafür kämpfen die Grünen seit Jahrzehnten. Doch dafür gibt es derzeit keine parlamentarische Mehrheit. Was die FPÖ gemeinsam mit der ÖVP hier schon ganz konkret festgeschrieben hat – man denke nur an die paktierte Abschaffung der GIS-Gebühren –, sollte auch feinsinnigeren Gemütern zu denken geben.


Drittens: Die Besetzung von Stellen an den obersten Gerichtshöfen ist eine politisch überaus heikle Angelegenheit, weil hier selbstverständlich entscheidende Weichen in der Rechtsprechung mit einer Perspektive von Jahrzehnten gestellt werden. Die Abtreibungsdebatten, die in den USA nach der Bestellung von Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett an den Supreme Court mit unglaublicher Heftigkeit aufgeflammt sind, zeigen uns, welches Gewicht Verfassungsrichter:innen im politischen Prozess haben.

In Österreich werden die Mitglieder und Ersatzmitglieder vom Bundespräsidenten ernannt. Für die Position des Präsidenten und der Vizepräsidentin hat die Bundesregierung das Vorschlagsrecht, sie nominiert außerdem sechs Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter sowie drei Ersatzmitglieder. Die weiteren Mitglieder und Ersatzmitglieder schlagen Nationalrat und Bundesrat vor.

Ich denke, es ist nachvollziehbar, dass die Grünen, wenn sie denn schon Einfluss auf entsprechende Entscheidungen nehmen können, niemals eine Klimawandelleugnerin oder einen Abtreibungsgegner für die Berufung an den Verfassungsgerichtshof vorschlagen würden.


Viertens: Klimaschutzministerin Leonore Gewessler hat den Bau des Lobautunnels gestoppt. Glaubt wirklich irgendjemand, die ÖVP hätte dem Ende für den Lobautunnel zugestimmt? Eben. Justizministerin Alma Zadić hat Sektionschef Christian Pilnacek suspendiert. Glaubt wirklich irgendjemand, die ÖVP hätte der Absetzung ihres mächtigsten Verbündeten im Justizministerium zugestimmt? Eben. Doch in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich agieren die Ministerien unabhängig und ohne dass der Koalitionspartner direkt darauf Einfluss nehmen könnte. Daher hat eben auch die ÖVP festhalten lassen, dass das Bildungsministerium ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen dekretieren könnte. Es ist im Übrigen Harald Walser und einigen anderen Verhandler:innen zu verdanken, dass dieses Ansinnen nicht Teil des Koalitionsübereinkommens wurde – weil die Grünen einem solchen Vorgehen niemals zustimmen würden. Ganz abgesehen davon wissen auch die Jurist:innen in den Reihen der ÖVP, dass ein solcher Erlass vom Verfassungsgerichtshof aufgrund von Rechtswidrigkeit mit großer Sicherheit aufgehoben würde. Es ist daher völlig widersinnig, den Kopftuchverbot-Erlass und die Wahl des ORF-Stiftungsratsvorsitzenden in einen „Quid pro quo“-Konnex bringen zu wollen. Die beiden Angelegenheiten stehen weder in sachlichem noch strukturellem Zusammenhang, und ein Erlass über das Kopftuchverbot wäre, wie angeführt, völlig substanzlos. Auf so einen miserablen Deal würde sich die ÖVP, so viel kann ich aus eigener Erfahrung sagen, niemals einlassen.


Fünftens: Zur Bestellungspraxis ein paar Beispiele aus dem Klimaschutzministerium. Kurt Weinberger, Vorstandsvorsitzender der Hagelversicherung, wurde als ÖBB-Aufsichtsrat verlängert. Brigitte Ederer, langjähriges Vorstandsmitglied der Siemens AG, wurde neu in den ÖBB-Aufsichtsrat berufen. Grüne Parteisoldat:innen? Wohl kaum, sondern vielmehr Besetzungen, bei denen Ministerin Leonore Gewessler ausschließlich die Kompetenz der betroffenen Personen ins Zentrum stellte. Siegfried Stieglitz (Asfinag) und Kathrin Glock (Austro Control) gehören den jeweiligen Aufsichtsräten hingegen nicht länger an. Die Gründe hierfür lassen sich nachlesen und haben jedenfalls nichts mit fehlender grüner Parteizugehörigkeit zu tun.


Sechstens: Was emphatisch „Hacklerregelgung“ genannt wird, war eine sozialpolitische Maßnahme, die die abschlagsfreie Pensionierung mit 62 Jahren garantieren sollte, wenn die betroffene Person 45 Jahre gearbeitet hatte. Dieses Modell kam, wie wir seit einiger Zeit wissen, praktisch ausschließlich Männern zugute, und „Hackler“ im Sinne von Menschen, die körperliche Schwerstarbeit verrichten, waren kaum darunter. Die aktuelle Bundesregierung hat anstelle der „Hacklerregelung“ nun den sogenannten „Frühstarterbonus“ eingeführt, der Frauen in verstärktem Ausmaß zugutekommen soll und den etwa Wifo-Ökonomin Christine Mayrhuber als „zielgerichtetes Mittel gegen Altersarmut“ betrachtet. Die ÖVP wollte den Ersatz der „Hacklerregelung“ durch den „Frühstarterbonus“ aus taktischen Erwägungen nicht ins Koalitionsübereinkommen aufnehmen, um absehbare Angriffe der SPÖ zu vermeiden, und die Grünen haben dieser Vorgehensweise zugestimmt, zumal es inhaltlich keine Divergenzen gab. Sauber? Naja. Doch Taktik gehört nun einmal zum politischen Geschäft, und wer diese Prämisse glaubt ignorieren zu können, wird in der politischen Praxis rasch eines Besseren belehrt. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.

Und nur nebenbei: Diejenigen, die nun aufgrund der Nebenvereinbarungen vor Empörung platzen, sind nicht selten dieselben Personen, die früher die Ansicht vertreten haben, die Grünen ließen sich von der ÖVP unablässig über den Tisch ziehen und seien der türkisen Machtmaschine nicht gewachsen.


Die Augenfälligkeit des Zeitpunkts


Es ist natürlich kein Zufall, dass diese Zusatzvereinbarungen ausgerechnet jetzt verbreitet werden, kurz vor dem Beginn des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der sich vor allem mit dem Verdacht der Korruption in der ÖVP beschäftigen wird. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber beständig. Nichts fürchtet der junge Altkanzler Sebastian Kurz so sehr wie das Szenario, neuerlich vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss erscheinen und unter Wahrheitspflicht aussagen zu müssen – zum Stil und zum Inhalt zahlloser Chats, zur dubiosen Finanzierung seiner Wahlkämpfe, zu bestellten Meinungsumfragen und gekaufter Berichterstattung im Boulevard und vielem mehr.

Kurz’ einziger Ausweg aus der Suppe, die er sich selbst eingebrockt hat: Neuwahlen. Denn damit wäre der U-Ausschuss fürs Erste obsolet und müsste neu konstituiert werden, sobald ein neuer Nationalrat angelobt wäre. Daher folgt die Bubentruppe um Kurz der Devise des langjährigen Donald-Trump-Chefberaters Steve Bannon: “Flood the zone with shit!”


Was wir hier also erleben, ist der Versuch des Ex-Kanzlers und seiner Vertrauten, Rache am ehemaligen Koalitionspartner zu üben, Dreck in alle Richtungen zu werfen, möglichst viel medialen Schaum zu schlagen und den Eindruck hervorzurufen, es seien ohnehin alle Parteien gleich und das politische System des Landes sei an der Wurzel verdorben. So weit, so durchschaubar. Ob der beleidigten Kurz-Kamarilla dieses Manöver gelingt, hängt nicht zuletzt von der Fähigkeit der öffentlich-rechtlichen und privaten Medien zum selbständigen Analysieren, zur differenzierten Berichterstattung ab. Heucheleien helfen uns nicht weiter.

 

„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“

(Gesundheitsdefinition der WHO)


„Das Virus ist eine demokratische Zumutung.“

(Angela Merkel)


Haben die Expertinnen und Experten recht,[1] bestehen ganz gute Aussichten, dass die Corona-Pandemie demnächst „endemisch“[2] wird und damit ihren Schrecken verliert. Die Impfung hat sehr viel dazu beigetragen, schwere Verläufe mit langen Spitalsaufenthalten oder gar intensivmedizinscher Behandlung drastisch zu reduzieren.


Aber machen wir uns nichts vor: Die Maßnahmen, mit denen wir die Pandemie bekämpft haben, sind eine unvergleichliche Zumutung an unser demokratisches Selbstverständnis: Masken im öffentlichen Raum, Abstandsregeln, Kontakt- und Zutrittsbeschränkungen, mehrere Lockdowns, in denen das soziale und wirtschaftliche Leben des Landes praktisch zum Erliegen kam, und schließlich die Impfpflicht. Diese Eingriffe in unsere Lebensgewohnheiten, in unser Verständnis von Freiheit und Selbstbestimmtheit wären noch vor drei Jahren unvorstellbar gewesen. Angesichts der Bedrohung durch das Virus waren sie bedauerlicherweise notwendig. Zugleich hat die Regierung mit unerhörten budgetären Kraftakten in Höhe von rund 40 Milliarden Euro die direkten Pandemiekosten und die ökonomischen Folgeschäden der Krise abgefedert, so gut es eben ging.


Langzeitfolgen


Doch zwei Jahre der Pandemie haben Spuren hinterlassen. Wir erleben Menschen, die an Long Covid erkrankt sind und sich nur sehr langsam erholen. Wir erleben eine erschreckende Zunahme an psychischen Erkrankungen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Alte und alleinstehende Menschen sind – hoffentlich nur vorübergehend – vereinsamt, Alleinerziehende in einen Zustand struktureller Überforderung geraten, dasselbe gilt beispielsweise für Beschäftigte im Pflege- und Gesundheitswesen. Wir erleben die Verschärfung sozialer Ungleichheiten und eine allgemeine Grundstimmung der Verunsicherung, der Ungeduld, der Ohnmacht, des permanenten Impulses, der Welt ein „Es reicht!“ zuzurufen.

Gerade Kinder und Jugendliche, deren Leben gefühlt schneller verläuft, haben zwei Jahre hinter sich, die sie nicht mehr aufholen können, selbst wenn ab jetzt alles wieder „normal“ würde. Mein dreijähriger Enkel hat zwei Drittel seines bisherigen Lebens unter den Bedingungen der Pandemie verbracht, meine letzten Herbst geborene Enkelin kennt erwachsene Menschen, die nicht dem engsten Familienkreis angehören, nur als Maskenträger:innen.


Nicht erst die letzte Woche im Parlament beschlossene Einführung der Impfpflicht hat zu dramatischen sozialen Verwerfungen geführt. Ich denke, es ist falsch, von einer „Spaltung“ der Gesellschaft zu sprechen, da dieses Bild zwei etwa gleich große Hälften suggeriert, aber es ist nicht zu bestreiten, dass die Corona-Krise Risse verursacht hat. Es gehen Brüche durch Unternehmen, Familien, Beziehungen, Vereine. Freundschaften sind zerbrochen. Die Fronten scheinen verhärtet, unauflöslich, die Standpunkte unversöhnlich. Meinungsverschiedenheiten steigern sich zu erbitterter Gegnerschaft, manchmal zu blankem Hass. Unter solchen Voraussetzungen verschwinden die Bereitschaft und die Möglichkeit, die Welt des jeweils anderen zu verstehen.


Die Immunisierung gegen das Coronavirus schreitet voran, die Immunisierung gegen radikale, staatsfeindliche und offen rechtsradikale Strömungen nimmt ab. Um den Gesundheitszustand unserer Demokratie ist es schlecht bestellt. Die einen unterstellen den anderen, paranoide „Covidioten“ zu sein, die anderen richten den einen aus, sie seien „Faschisten“.


Diese Auseinandersetzungen werden, so viel scheint klar, Langzeitfolgen nach sich ziehen. Die Verletzungen, die wir einander beigebracht haben, werden nicht automatisch verschwinden. Die Zeit wird nicht alle Wunden heilen. Es wird nicht einfach Gras über die traumatischen Erlebnisse der letzten beiden Jahre wachsen.


Wer aber kümmert sich um die Behandlung dieser Traumata, dieser physischen und psychischen Beschädigungen? Wie können Heilung oder wenigstens Versöhnung gelingen? Ich finde, darüber müssen wir reden.


Und auch wenn der großen Mehrheit der Bevölkerung die Sturheit, die Uneinsichtigkeit, die Verbohrtheit, das Misstrauen der kleinen, aber lautstarken Minderheit auf die Nerven gehen: Es ist die Aufgabe der Mehrheit – und damit meine ich zuallererst die Mehrheit im Parlament und die Bundesregierung –, erste Schritte auf die Minderheit zuzugehen, schon allein deswegen, weil sie die Verantwortung für die gesamte Gesellschaft trägt. Doch schließlich kommt es auf uns alle an. Wir müssen neu lernen, aufeinander zuzugehen, zuzuhören, den Disput zu pflegen, Argumente von Emotionen zu unterscheiden.


Und nun?


Wir brauchen dringend ein Ventil, durch das die aufgeheizte Luft aus dem Druckkochtopf, in den die Gesellschaft sich zu verwandeln droht, entweichen kann. Die Einführung der Impfpflicht hat die Temperatur insbesondere auf der Seite der ungeimpften Minderheit aller ideologischen Schattierungen noch einmal bedeutend erhöht.

Nach dem Ende des „Lockdowns für Ungeimpfte“ brauchen wir weitere Ventile, durch die der Druck entweichen kann.[3] Auch wenn die Maßnahme nicht als Strafsanktion konzipiert war (sondern die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern sollte), steht er mit der Impfpflicht in einem widersprüchlichen Verhältnis. Es ist unter den aktuellen gesetzlichen und pandemischen Bedingungen nicht länger vertretbar, bestimmte Menschen von weiten Bereichen des öffentlichen Lebens fernzuhalten. Der Besuch von Restaurants und Geschäften jenseits der Apotheken und Supermärkte, das Treffen von Menschen, das Pflegen sozialer Kontakte soll für alle gleichermaßen gegeben sein. Die Frage, ob die Beendigung des „Lockdowns für Ungeimpfte“ auch die Teilnahme an Großveranstaltungen ermöglichen soll, ist heikel; vermutlich wäre eine Maximalgröße zu definieren. Ebenso wenig ist es einfach, den richtigen Zeitpunkt für die Aufhebung dieser Maßnahmen zu finden. Dieser sollte zumindest mit jenen Parlamentsparteien koordiniert werden, die der Einführung der Impfpflicht zugestimmt haben.


Als nächster Schritt sollten die in den diversen Covid-Maßnahmengesetzen verankerten Sonderbestimmungen für Legislative und Exekutive außer Kraft treten. Regierungen und Parlamente (Nationalrat, Landtage, Gemeinderäte) kehren in den verfassungsrechtlichen Normalbetrieb zurück.


Gleichzeitig müssen Verfassungsschutz, Polizei und Justiz kompromisslos gegen jene Gruppen vorgehen, die im Windschatten der Pandemie und im Rahmen von Demonstrationen offen rechtsextreme und staatsfeindliche Aktionen setzen. Die Bedrohung von Ärzt:innen, Pfleger:innen, Lehrer:innen oder Politiker:innen muss mit allen Mitteln des Rechtsstaates bekämpft werden.


Und dann: Aufarbeitung


Es liegt an der Regierung, den institutionellen Rahmen zu schaffen, in dem wir alle die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie aufarbeiten können. Symposien, politische Debatten, sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte und parlamentarische Gremien sind hierfür nicht genug. Wir müssen uns vor allem Formate überlegen, denen sich auch jene Menschen annähern können, die in den letzten beiden Jahren auf maximale Distanz gegangen sind.

Das wird ein langer und mühsamer Prozess, von dem überhaupt nicht klar ist, ob er zum Erfolg führen wird. Doch beginnen wir ihn nicht, laufen wir Gefahr, einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dauerhaft für alles zu verlieren, was sich mit den Begriffen Demokratie, Teilhabe, Solidarität und Gemeinsinn unscharf umschreiben lässt.


Selten war Politik schwieriger als während – und nach – Corona.


PS: Ich habe zu dem Thema das eine oder andere Interview gegeben, nachzulesen in der Presse, in den Salzburger Nachrichten und im Kurier. [1] Vgl. z. B. https://unchartedterritories.tomaspueyo.com/p/covid-end-game (25.01.2022), https://www.morgenpost.de/vermischtes/article234395811/corona-who-endphase-pandemie-omikron-drosten-impfpflicht.html (25.01.2022), https://de.euronews.com/2022/01/24/who-halt-ende-der-pandemie-in-europa-nach-omikron-welle-fur-plausibel (25.01.2022). [2] „Endemisch“ bedeutet, dass das Virus bei uns – ähnlich wie die Grippe oder FSME – heimisch wird, aber keine großen Schwankungen mehr auslöst. Die Krankheit wird berechenbar.

[3] Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker hat völlig recht mit der Einschätzung, dass das eine überaus unglückliche Wortwahl war.

 

Zum 77. Jahrestag der Befreiung von Auschwitz

Josef Wolfgang war ein ehrenwerter Mann. Ein Hohenemser Kaufmann, seit 1933 Ortsgruppenleiter der NSDAP in der Marktgemeinde. 1938, kurz nach dem „Anschluss“, wurde Wolfgang Bürgermeister von Hohenems.[1]

Am 12. Juli 1940 schrieb Bürgermeister Wolfgang einen Brief an den Landrat des Kreises Feldkirch. Die einstmals große jüdische Gemeinde von Hohenems existierte zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr, ihre Mitglieder waren geflohen, vertrieben oder nach Wien verbracht worden. Frieda Nagelberg, 50 Jahre alt, geboren in Stryj in Galizien, war vermutlich die letzte in Hohenems verbliebene Jüdin, und Wolfgang wollte auch sie loswerden, denn: „Wie bereits berichtet, lege ich größten Wert darauf, dass auch die letzte Jüdin das Land Vorarlberg verlässt, und wenn ihre Übersiedlung nach Wien an der Tragung der Fahrtkosten scheitern sollte, wäre ich bereit, dieselben zu übernehmen.“ Frieda Nagelberg wurde nach Wien deportiert. Am 9. April 1942 hatte sie sich am Wiener Aspangbahnhof einzufinden. Von dort fuhr an diesem Tag ein Deportationsgüterzug mit etwa 1.000 Insassen nach Izbica ab, eine Kleinstadt, gelegen im Distrikt Lublin des sogenannten Generalgouvernements. Keiner dieser Menschen überlebte. Frieda Nagelberg wurde mit hoher Wahrscheinlichkeit im Jahr 1942 im Vernichtungslager Bełzec ermordet.[2]




Die Shoah, die Vernichtung der europäischen Jüdinnen und Juden, wäre undurchführbar gewesen ohne den Eifer lokaler Honoratioren, ohne die Willfährigkeit der lokalen Bevölkerung, auch und gerade in Österreich. Davon legt die neu gestaltete Ausstellung im Österreich-Pavillon des Konzentrationslagers Auschwitz eindrucksvoll Zeugnis ab.


Schon 2009 beauftragte die Republik Österreich den Nationalfonds, die Länderausstellung in Auschwitz neu zu entwickeln und zu gestalten, da die vorherige Präsentation sich vor allem auf Österreichs Opferrolle während des Nationalsozialismus konzentriert hatte und auf keiner Ebene mehr wissenschaftlichen, historischen und gestalterischen Anforderungen entsprach. Doch – wie so oft in Österreich – es dauerte. 2014 machte sich schließlich ein Team um den Salzburger Historiker Albert Lichtblau an die Arbeit, Anfang Oktober 2021 eröffneten Bundespräsident Alexander Van der Bellen und Nationalratspräsident Wolfgang Sobotka die neue Ausstellung, die nun einen sehr differenzierten Blick auf die Beteiligung von Österreicherinnen und Österreichern an der nationalsozialistischen Vernichtungspolitik wirft.


Denn es gab eben nicht nur vereinzelte österreichische Sadisten wie Franz Murer, den „Schlächter von Wilna“, oder eiskalte Bürokraten des Mordes wie Adolf Eichmann oder Ernst Kaltenbrunner, den Leiter des Reichssicherheitshauptametes. Die Shoah war ein arbeitsteiliger Prozess, an dessen Durchführung zahlreiche österreichische Männer und Frauen beteiligt waren, von dem Kärntner Odilo Globocnik, der die sogenannte „Aktion Reinhard“ leitete, die Ermordung der Jüdinnen und Juden des Generalgouvernements, über den Salzburger Hermann Höfle, der als „Judenreferent“ in Lublin Globocniks wichtigster Mitarbeiter war, den Innsbrucker Architekten Walter Dejaco, der die Vernichtungsanlagen und Krematorien in Auschwitz-Birkenau plante, bis hin zum Hohenemser Bürgermeister Josef Wolfgang, dem es ein Anliegen war, auch noch die letzte Jüdin der Marktgemeinde nach Wien abzuschieben.


Rein wissenschaftlich betrachtet, ist die neue Österreich-Ausstellung im Block 17 des Staatlichen Museums Auschwitz-Birkenau ein großer Wurf. Sie verdeutlicht das Grauen sowohl durch den Bezug auf die Täterinnen und Täter als auch auf die Perspektive der Opfer und vergisst auch nicht, auf die Keime der Zivilcourage und des Widerstandes hinzuweisen, die sich in Auschwitz regten. Harald Walser hat erst vor wenigen Monaten eine Monografie über die Krankenschwester Maria Stromberger vorgelegt, den „Engel in der Hölle von Auschwitz“, die 1957 in Bregenz starb.[3] Stromberger kollaborierte mit der internationalen „Kampfgruppe Auschwitz“, einem Zusammenschluss polnischer und österreichischer Lagerinsassen, der unter anderen Hermann Langbein und Alfred Klahr angehörten, und schmuggelte Aufzeichnungen über die Zustände im Lager nach Wien zu Hermann Langbeins Bruder Otto, der versuchte, die Weltöffentlichkeit hinsichtlich der Existenz des Vernichtungslagers aufzurütteln.


Heute vor 77 Jahren befreiten Soldaten der Roten Armee das Konzentrationslager Auschwitz. Über eine Million Menschen wurden dort in den Jahren 1940 bis 1945 ermordet. An Tagen wie heute führen viele Menschen das Schlagwort „Niemals vergessen!“ im Mund und beteuern, dass „so etwas“ nie wieder geschehen dürfe. Ich möchte mit einem Zitat der 2020 verstorbenen Schriftstellerin Ruth Klüger schließen, die Auschwitz überlebt hat: „Man sagt ‚Nie wieder‘ und dann schauen Sie sich mal die Massaker an, die inzwischen passiert sind. Es ist absurd zu sagen, es soll nicht wieder passieren.“

[1] Vgl. Johannes Spies: Die Hohenemser Stolpersteine als Ansatzpunkte einer biographiebezogenen Auseinandersetzung mit der lokalen NS-Geschichte. Abschlussarbeit an der Pädagogischen Hochschule Oberösterreich, 2015, 25. [2] Vgl. die Datenbank der österreichischen Opfer der Shoah unter http://www.doew.at (27.01.2022). [3] Harald Walser: Ein Engel in der Hölle von Auschwitz. Das Leben der Krankenschwester Maria Stromberger. Wien 2021.

 
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