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"Es gibt Krisenzeiten, in denen nur das Utopische realistisch ist."
(George Steiner)
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  • Johannes Rauch

Zugegeben, auch wir Grünen haben lange Zeit nicht sehr viel vom Amt des Bundespräsidenten gehalten. Ersatzkaiser, hieß es; Grüßaugust, dachten wir; repräsentative Monstranz, spöttelten wir. Doch 2016 legten wir all unsere Energie, all unser politisches Gewicht und all unsere Emotionen in die Aufgabe, Alexander Van der Bellen als Bundespräsidenten in die Hofburg zu bringen. Es ist uns – wider Erwarten und nach einigem Trubel rund um die Stichwahl, den ich an dieser Stelle nicht zusammenfassen muss – tatsächlich gelungen.


Am 25. Jänner 2017 erschien eine Zeichnung des Karikaturisten Michael Pammesberger in der Tageszeitung Kurier. Der am folgenden Tag anzugelobende Bundespräsident und sein Hund blicken aus dem Fenster der Hofburg, und Van der Bellen meint, gedankenversunken: „Pfoah … des wird fad …“

© Kurier/Pammesberger


Tja, da haben wir uns alle getäuscht. 2019, nach dem Auftauchen des Ibiza-Videos und der Abwahl von Bundeskanzler Kurz durch einen parlamentarischen Misstrauensantrag, standen wir knapp vor einer Verfassungskrise. Ich bin Alexander Van der Bellen heute noch enorm dankbar dafür, dass er die Republik mit sicherer, ruhiger Hand durch diese politischen Sandbänke, Klippen und Riffe navigiert hat. Das von ihm nominierte Expert:innen-Kabinett von Bundeskanzlerin Brigitte Bierlein – nebenbei bemerkt, der ersten Frau in diesem Amt – hat seine Aufgaben mit großer Kompetenz erfüllt, doch der stabilisierende Faktor in diesen stürmischen Zeiten, in denen die Wogen hoch gingen und die Zukunft ungewiss erschien, war der Bundespräsident. An seiner Zuversicht, seiner Gelassenheit, seinem Vertrauen in die „Eleganz der Verfassung“ und seinem feinen Humor konnten wir alle uns orientieren.

Ich will mir gar nicht ausmalen, wie diese Staatskrise unter einem anderen Bundespräsidenten hätte ausgehen können.


Alexander Van der Bellens Erfahrung und Besonnenheit – das hat sich auch im Zusammenhang mit der Corona-Krise gezeigt – suchen in der politischen Landschaft Europas ihresgleichen. Wir wären höchst unklug, würden wir auf ein Staatsoberhaupt von diesem Format verzichten wollen. Dieser Ansicht schließen sich auch immer mehr Politiker:innen anderer Parteien an. Die Zweite Nationalratspräsidentin Dores Bures, Wiens Bürgermeister Michael Ludwig, Kärntens Landeshauptmann Peter Kaiser und Niederösterreichs Landesparteichef Franz Schnabl (alle von der SPÖ) würden Alexander Van der Bellen unterstützen, sollte dieser ein weiteres Mal kandidieren, und auch die ÖVP-Landeshauptleute Hermann Schützenhöfer, Thomas Stelzer, Günther Platter und Markus Wallner haben bereits Unterstützung im Falle eines erneuten Antretens signalisiert.

Und wenn sich Manfred Weber, der Vorsitzende der Fraktion der Konservativen im Europäischen Parlament, dazu versteigt, die Kandidatur von Silvio Berlusconi (!) zum Staatsoberhaupt Italiens öffentlich zu unterstützen, dann wäre es ein angemessenes Signal der staatstragenden Parteien in Österreich, würden sie Alexander Van der Bellen als neuen, alten Bundespräsidenten empfehlen.


Heute feiert Alexander Van der Bellen seinen 78. Geburtstag: Happy birthday, Mr President! Ich kann dir in diesem Beitrag keinen Geburtstagswunsch erfüllen, sondern wende mich mit einem Wunsch an dich: Sehr geehrter Herr Bundespräsident, lieber Sascha, tritt bitte wieder an!


Weil es eben nicht wurscht ist, wer in den nächsten sechs Jahren im Leopoldinischen Trakt der Hofburg sitzt.

  • Johannes Rauch

Dieser Beitrag ist mir persönlich wichtig. Ich habe 15 Jahre meines beruflichen Lebens mit Arbeitslosen, zumeist Langzeitarbeitslosen gearbeitet und über Maßnahmen der aktiven Arbeitsmarktpolitik Betroffene darin unterstützt, wieder Fuß zu fassen. Menschen, die in ihrer Teilhabe an der Gesellschaft eingeschränkt sind, ausgegrenzt werden, erleben auf das Schmerzhafteste, wie die Leistungsgesellschaft auf Mangel reagiert. Ob arbeitslos, krank, pflegebedürftig oder in seiner Ausstattung und Autonomie anderweitig eingeschränkt, man gehört, mitunter von heute auf morgen, nicht mehr dazu, jedenfalls nicht mehr ganz. Dauert dieser Zustand länger, verliert, wer betroffen ist, die wichtigsten und unantastbarsten, gleichzeitig verletzlichsten Güter von allen: Selbstwert und Würde, am Ende auch jede Form von Beheimatung.

Wer trotz der Kurzatmigkeit der heutigen Zeit ein zeitlos aktuelles Standardwerk zu den Auswirkungen von Arbeitslosigkeit lesen mag, dem lege ich ans Herz:



Es reicht nicht. Es reicht hinten und vorne nicht. Und wer alleinstehend oder gar alleinerziehend ist, für den oder die reicht es erst recht nicht. Deshalb: Rauf mit dem Arbeitslosengeld!


Neun von zehn arbeitslosen Menschen in Österreich leben unterhalb der Armutsgrenze.[1] Das durchschnittliche Arbeitslosengeld pro Monat beträgt augenblicklich 1.040 Euro für Männer und 870 Euro für Frauen. Beide Werte liegen deutlich unter der Armutsgefährdungsschwelle, die in Österreich (Stand 2020) bei monatlich 1.328 Euro liegt.[2]


Die Gewerkschaft vida hat 2019 ausgerechnet, dass eine alleinstehende arbeitslose Frau durchschnittlich 843 Euro pro Monat an Arbeitslosengeld erhält, denen durchschnittliche monatliche Ausgaben in Höhe von 1.426 Euro gegenüberstehen. Am Ende jedes Monats findet sich die Haushaltskasse dieser Frau tief in den roten Zahlen. Es ist unter den gegebenen Umständen praktisch unmöglich, der Armuts- und Schuldenfalle zu entkommen.




In Österreich beläuft sich die sogenannte Nettoersatzrate, also die Höhe des Arbeitslosengeldes, zu Beginn der Arbeitslosigkeit auf rund 55 % des vorherigen Nettoeinkommens. Damit liegen wir deutlich unter dem OECD-Schnitt von 64 %.[3] Zurzeit bietet das österreichische System aber immerhin noch den Vorteil, dass die Nettoersatzrate bei Fortdauern der Arbeitslosigkeit nicht dramatisch sinkt. Langzeitarbeitslose erhalten in Österreich rund 51 % ihres letzten Gehalts, in Deutschland (Stichwort Hartz IV) lediglich 22 %.

Nun führen insbesondere konservative Kreise gern das Argument spazieren, man dürfte es den Arbeitslosen in ihrer Arbeitslosigkeit nicht allzu bequem machen. Sie beschwören das Bild der „sozialen Hängematte“ herauf, von der aus die Arbeitslosen der vermeintlich „fleißigen“ Restbevölkerung bei der Arbeit zusehen würden. Doch die „soziale Hängematte“ war schon immer ein Nagelbrett.

Denn die traurige Tatsache ist einfach: Es gibt in Österreich nicht genügend Arbeitsplätze. Im Dezember 2021 waren in Österreich 336.276 Personen als arbeitslos gemeldet, 66.102 befanden sich in AMS-Schulungen unterschiedlichster Art. Diesen rund 400.000 Arbeit suchenden Menschen stehen per Dezember 2021 102.193 offene Stellen gegenüber.[4] Selbst wenn man Fragen der Ausbildung und der Angemessenheit weglässt, bedeutet das:

Vier Arbeitslose bemühen sich um ein und denselben Job; und das wiederum heißt: Drei von vier Betroffenen finden keine Arbeit, ganz egal wie sehr sie das auch wollen.

Und so hat sich die Zahl der Langzeitarbeitslosen in den letzten zehn Jahren verelffacht (der Faktor 11!). Das ist eine dramatische Entwicklung, die im Großen und Ganzen darauf hinausläuft, dass Menschen, die nach sechs Monaten in der Arbeitslosigkeit keinen neuen Job gefunden haben, praktisch keine Chance mehr am Arbeitsmarkt haben – je älter sie sind, desto unerfreulicher werden die Perspektiven.


Würde man nun, wie mancherorts gefordert, darangehen, das Arbeitslosengeld „degressiv“ abzuflachen – das ist nichts weiter als Verschleierungsrhetorik, die auf eine Senkung der Arbeitslosenunterstützung hinausläuft – und die sogenannten Zumutbarkeitsbestimmungen zu verschärfen, würde man lediglich den ökonomischen Druck auf die Arbeitslosen erhöhen. Solche Konstellationen begünstigen das Erblühen von sogenannten McJobs – schlecht bezahlte Arbeitsplätze unter richtig miesen Arbeitsbedingungen –, etablieren eine Gesellschaftsschichte der “Working Poor” (Menschen, die in Vollzeit arbeiten, davon aber kaum leben können), tragen aber nichts dazu bei, die Jobangebote zu verbessern. Ist das die Arbeitswelt, ist das die Zukunft, die uns für unsere Kinder und Enkel vorschwebt? Ich denke nicht.


Und da reden wir noch gar nicht von den psychischen und gesundheitlichen Problemen, mit denen Arbeitslose zu kämpfen haben, von ihrer fehlenden Teilhabe am gesellschaftlichen und kulturellen Leben, von ihrer geringeren Lebenserwartung oder von der Erblichkeit von Armut. Wer es nicht erlebt hat, kann sich kaum vorstellen, was Existenzsorgen in einer Person anrichten können.


Die Regierung hat in den vergangenen zwei Jahren immerhin zweimal Zuschüsse zum Arbeitslosengeld ausbezahlt und die Notstandshilfe befristet erhöht und ans Arbeitslosengeld angepasst; erst im Dezember letzten Jahres erhielten Arbeitslose und Bezieher:innen der Nostandshilfe einen sogenannten Teuerungsausgleich von 150 Euro. Das ist wesentlich mehr, als die Vorgängerregierungen der letzten 20 Jahre für beschäftigungslose Menschen zuwege gebracht haben. Doch es gibt noch viel zu tun.


Die Initiative „Arbeitslosengeld rauf!“, zu deren Proponent:innen auch der Historiker, Theologe und vor allem Doyen der österreichischen Politikwissenschaft Emmerich Tálos zählt, hat ein Volksbegehren ins Leben gerufen, das den Forderungen nach einer Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf wenigstens 70 % Nettoersatzrate und einer Entschärfung der Zumutbarkeitsbestimmungen für Arbeitslose Nachdruck verleihen soll. „Das derzeitige Arbeitslosengeld führt zu Armut statt sie zu verhindern. Eine Erhöhung ist dringend notwendig“, sagt etwa auch der Präsident der Arbeiterkammer Vorarlberg Hubert Hämmerle.[5]


Können wir uns das leisten?, fragen Sie sich vielleicht. Ja, ist die simple Antwort. Die Erhöhung des Arbeitslosengeldes auf 70 % kostet – je nach Zahl der Arbeitslosen, aber trotzdem – ziemlich genau eine Milliarde Euro pro Jahr. Das klingt nach einer großen Summe, ist aber praktisch Kleingeld im Vergleich zu den Corona-Hilfen, die die Regierung in den letzten beiden Jahren ausbezahlt hat. Außerdem würde dieses zusätzliche Geld direkt in den Konsum fließen – die Arbeitslosen haben ohnehin nicht genug Geld, um auch noch zu sparen – und dadurch direkt die österreichische Wirtschaft „ankurbeln“, wie man gerne sagt. Eine effektivere wirtschaftspolitische Lenkungsmaßnahme, die zugleich menschenwürdige Verhältnisse für 300.000–400.000 arbeitslose Bürger:innen dieses Landes schafft, ist – für mich zumindest – schlicht nicht vorstellbar.


Bis 24. Jänner werden noch Unterstützungserklärungen für die Einleitung des Volksbegehrens gesammelt, danach beginnt die Eintragungswoche. Hier können Sie die Initiative unterstützen: Online mit Bürgerkarte oder Handy-Signatur unterschreiben.


Unterschreiben Sie! Das ist meine erste Bitte im Jahr 2022.

[1] https://www.momentum-institut.at/news/arbeitslosengeld-die-meisten-arbeitslosen-leben-unter-der-armutsgrenze (12.01.2022). [2] https://www.statistik.at/web_de/statistiken/menschen_und_gesellschaft/soziales/gender-statistik/armutsgefaehrdung/index.html (12.01.2022). [3] https://kurier.at/wirtschaft/arbeitslosengeld-in-vielen-laendern-kommt-der-rasche-absturz/400938476 (12.01.2022). [4] https://www.ams.at/content/dam/download/arbeitsmarktdaten/%C3%B6sterreich/berichte-auswertungen/001_uebersicht_aktuell_1221.pdf [5] https://www.wannundwo.at/termine/2021/11/05/arbeitslosengeld-rauf-vortrag-bei-der-ak.wawo (14.01.2022).

Das Bild, das die Politik gerade von sich selbst zeichnet, ist verheerend. Der neuesten Ausgabe des Österreichischen Demokratie Monitors zufolge sind mittlerweile fast 60 % der Österreicher:innen der Ansicht, das politische System im Lande funktioniere „weniger gut“ oder „gar nicht gut“. Besonders dramatisch haben sich die Ansichten der Bevölkerungsanteile verändert, die hinsichtlich ihrer ökonomischen Möglichkeiten im unteren Drittel angesiedelt sind – Personen also, die in schlecht bezahlten Jobs tätig sind. 84 % von ihnen fühlen sich „als Menschen zweiter Klasse“ behandelt, 79 % sehen sich „im Parlament nicht vertreten“. Das ist angesichts der unverfrorenen Umverteilungspolitik von unten nach oben, die insbesondere Schwarzblau in den Jahren 2017–2019 betrieb, und der Rhetorik, deren sich jene Regierung gerade gegenüber Arbeitslosen befleißigte, auch kein Wunder.


Die Studienautor:innen von SORA nennen im Wesentlichen zwei Faktoren für das schwindende Vertrauen der Österreicher:innen in ihre politischen Repräsentant:innen und in das politische System: die Corona-Pandemie, die epidemiologisch bedingte staatliche Eingriffe – in nie dagewesenen Ausmaß – in die individuelle Lebensführung erforderlich machte, und die sogenannte Inseraten-Affäre, die weit über die ÖVP hinaus wirkt und nicht weniger als 90 % der Österreicher:innen zu der Ansicht gelangen ließ, dass „die österreichische Politik ein Korruptionsproblem hat“. Mehr als 40 % der Menschen sind davon überzeugt, dass das unappetitliche Mosaik, das die Chat-Protokolle rund um Thomas Schmid und Sebastian Kurz ausbreiten, „typisch für alle Parteien“ sei.

Auch in Vorarlberg steht diesbezüglich einiges zum Schlechten, wie uns erst unlängst nachdrücklich in Erinnerung gerufen wurde. Hier einige Kostproben aus der Medienberichterstattung vom November und Dezember:


Doch wenn niemand mehr der Politik vertraut, haben wir alle ein Problem. In meiner gestrigen Rede im Vorarlberger Landtag habe ich versucht, auf diese Fragen einzugehen und einen ersten Schritt zu machen, der es den Menschen in diesem Land erlauben möge, wieder Vertrauen in das politische System und dessen Repräsentant:innen zu gewinnen.


Denn auch wenn es fürchterlich pathetisch klingt: Es geht um nichts weniger als um die Fundamente unserer Demokratie.


Ich lade Sie ein: Nehmen Sie sich – irgendwann während der Weihnachtsferien, wenn die Hektik ein wenig nachgelassen hat – 15 Minuten Zeit und hören Sie sich meine Gedanken an. Vielleicht finden wir irgendwo einen grünen Zweig.


Ich wünsche Ihnen das Allerbeste für die Festtage. Vor allem aber: Bleiben Sie gesund!


Johannes Rauch


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