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"Es gibt Krisenzeiten, in denen nur das Utopische realistisch ist."
(George Steiner)
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  • Johannes Rauch


Energiepolitische Anmerkungen


Die Energiepreise sind so hoch wie seit langem nicht mehr. Im Vergleich zum Vorjahr ist der Preis für Heizöl um über 30 Prozent, für Superbenzin um knapp 25 Prozent, für Diesel um über 21 Prozent in die Höhe geschnellt. Das sind atemberaubende Preissprünge, die im Moment die Kund:innen an allen Tankstellen im Land daran zweifeln lassen, ob sie die Anzeige an der Zapfanlage auch richtig gelesen haben. Laut Berechnungen der Österreichischen Energieagentur hat sich der Energiepreisindex zwischen August 2020 und August 2021 um nicht weniger als 15,2 Prozent erhöht.





Selbst die Strom-, Gas- und Brennholzpreise liegen deutlich über den Vergleichswerten des Vorjahres. Die Gründe dafür sind leider offensichtlich: Nach der Krise springen Wirtschaft und Industrie wieder an und produzieren dadurch auch eine hohe Nachfrage nach Energie, was gemäß kapitalistischer Logik die Preise durch die Decke schießen lässt.

Es steht zu befürchten, dass insbesondere Erdgas in den kommenden Monaten noch teurer wird. Die EU deckt rund 25 % ihres gesamten Energiebedarfs mit Erdgas und importiert Jahr für Jahr rund 357 Millionen Tonnen RÖE (Rohöleinheiten)[1] dieses Rohstoffs; rund 13 % davon stammen aus Algerien, rund 25 % aus Norwegen, und nicht weniger als 40 % aus Russland.[2] Die EU kann nicht einmal die Hälfte ihres Erdgasbedarfs aus eigenen Vorkommen decken und ist daher auf Importe angewiesen. Aufgrund dieser Zahlen und Verhältnisse wird, denke ich, sehr deutlich, warum es eine so vordringliche Aufgabe ist, die Abhängigkeit von russischen Erdgaslieferungen zu beenden oder zumindest zu verringern. Russland liefert jährlich rund 140 Millionen Tonnen RÖE an die EU und ist daher der mit Abstand wichtigste Energielieferant. In dieser enorm bequemen Position können Russlands Präsident Wladimir Putin und die mehrheitlich in Staatsbesitz befindlichen Konzerne Gazprom und Rosneft die Preise praktisch diktieren und die Zufuhr kontrollieren.

Der Erdgasbedarf der EU verteilt sich im Übrigen rund zur Hälfte aufs Heizen sowie zu jeweils einem Viertel auf die Industrie und auf die Stromerzeugung. Deshalb hat eine Erhöhung der Gaspreise auch Auswirkungen auf den Strompreis.


Und in Vorarlberg?


In Vorarlberg liegt der Anteil von Erdgas am gesamten Energiebedarf bei rund 22 % (2.078 GWh von insgesamt 9.469 GWh), wobei diese Energieform im Wesentlichen in den Bereichen Gebäude und Industrie eingesetzt wird.[3] Da Vorarlberg über keinerlei Erdgasvorkommen verfügt, beträgt die Importabhängigkeit 100 %. Der Gasbedarf ist in den letzten Jahren einigermaßen konstant geblieben – was keine schlechte, aber auch keine besonders gute Neuigkeit ist, weil es uns ja ein Anliegen sein müsste, den Erdgasverbrauch drastisch zu reduzieren – und zwar sowohl aus ökologischen als auch aus ökonomischen Gründen. Nach wie vor werden in Vorarlberg nach Angaben der Statistik Austria 22.729 von insgesamt 169.735 Haushalten mit Gas beheizt, das sind rund 13,4 % aller Haushalte.

Die gute Nachricht ist, dass der größte Energieversorger Vorarlbergs, illwerke vkw, trotz der hohen Preisniveaus auf dem Energiesektor derzeit nicht an eine Anhebung der Strom- und Gaspreise für die Endkund:innen denkt. Das ist nicht zuletzt der langfristigen Beschaffungsstrategie des Unternehmens zu verdanken. Erst im April 2022, also nach dem Ende der Heizsaison, wird illwerke vkw über eine Erhöhung der Gas- und Strompreise entscheiden.


Was tun?


Warten mit dem Ausstieg? Keine Steuer auf CO2? Klimaschutz verschieben, weil es jetzt grad nicht so günstig ist, wenn die Energiepreise steigen?

Ganz im Gegenteil: Raus aus der Abhängigkeit und der Erpressbarkeit!

Die Bundesregierung und das Land Vorarlberg sind gerade dabei, eine ganze Reihe von Anreizen zu schaffen, um den Anteil an erneuerbarer Energie am Gesamtenergiebedarf zu erhöhen. Das Land Vorarlberg etwa fördert thermische Solaranlagen, Holzheizungen und Hausanschlüsse an Nahwärmesystem, elektrisch betriebene Heizungswärmepumpen und Lüftungsanlagen mit Wärmerückgewinnung in der Höhe von bis zu 50 % der Investitionskosten.[4] Und auch der Bund fördert den Umstieg, denn wir wissen, dass bei der Stromerzeugung aus Photovoltaik, Wasserkraft und Wind keine variablen Kosten anfallen – die Preise schwanken also weit weniger als bei der Stromproduktion aus Öl und Gas, die Belastungen werden wesentlich besser berechenbar. Und wenn mehr Energie aus erneuerbaren Quellen auf den Markt kommt, bedeutet dies auch, dass die vergleichsweise teuren bzw. künstlich knapp gehaltenen fossilen Energieträger wie Erdöl und Erdgas zurückgedrängt werden können.


Und nur um dem immer wieder auftauchenden Vorwurf zu begegnen, die Grünen hielten vor lauter Ökologie die soziale Lage der Bevölkerung für nebensächlich: Klimaschutzministerin Leonore Gewessler hat im Frühjahr 2021 angekündigt, dass einkommensschwache Haushalte künftig Förderungen in Höhe von 100 % der Investitionskosten erhalten können, um auf umweltfreundliches Heizen umzusteigen.[5] Die genauen Modalitäten stehen gegenwärtig noch in Verhandlungen; diese sollten aber bald abgeschlossen sein. Denn uns ist klar, dass ökologisches Bewusstsein nicht vom Umfang der Geldbörse abhängen darf.


Das Fazit ist simpel: Wir treiben den Ausstieg aus Öl und Gas weiter voran und fördern die Energiegewinnung aus erneuerbaren Quellen. Das ist nicht nur das ökologisch notwendige Vorgehen, um den CO2-Ausstoß zu reduzieren und Klimaneutralität herzustellen, sondern auch die beste Strategie, um die Strom- und Heizrechnung verlässlich kalkulieren zu können und die politische Erpressbarkeit zu beenden. Der Umstieg auf erneuerbare Energie zahlt sich aus – auf jeder Ebene!

[1] RÖE sind eine von mehreren international gebräuchlichen Energieeinheiten. Ein Kilogramm RÖE entspricht 1,319 Kubikmetern Erdgas. [2] Vgl. die Statistik der BPB. [3] Vgl. Energie- und Monitoringbericht 2020 des Landes Vorarlberg. [4] Vgl. die Energieförderungsrichtlinie des Landes Vorarlberg. [5] Hier die Presseaussendung der Ministerin.


Erste Gedanken zum Bundesbudget 2022


Nicht wenige Menschen beantworten die Frage, was sie zum Erreichen der Glückseligkeit benötigen würden, lapidar mit: „Geld.“ So verständlich diese Antwort ist, sie greift doch viel zu kurz. Denn am Geld, das behaupte ich im Einklang mit den meisten Philosoph:innen, wäre uns relativ wenig gelegen, würde es nicht dazu dienen, uns Dinge zu verschaffen, die uns wertvoll erscheinen – oder, aus dem Blickwinkel der Gesellschaft gesprochen, Verhältnisse herzustellen, die uns dem Glück oder dem guten Leben für alle einen kleinen Schritt näher bringen. Geld ist also lediglich ein Mittel zum Zweck, aber niemals ein Zweck an sich, mögen die “Wolves of Wall Street” das auch anders sehen.

So betrachtet stellt das gestern präsentierte Bundesbudget 2022 mehr dar als bloß den unvermeidlichen Stehsatz von der „in Zahlen gegossenen Politik“ der Bundesregierung. Es reflektiert vielmehr den gesellschaftlichen Veränderungsanspruch, den, das behaupte ich, ohne rot zu werden, insbesondere die Grünen dem Regierungsprogramm 2020–2024 beigemischt haben. Denn die zentrale Frage, die wir uns vor dem Beginn der Koalitionsverhandlungen mit der ÖVP stellten, lautete tatsächlich: „Wie bewegen wir uns auf das Ziel des guten Lebens für alle zu?“, wobei wir in das kleine Wörtchen „alle“ besonders auch die zukünftigen Generationen einschlossen.


Wie haben wir uns unter diesen Prämissen also geschlagen?


Die aktuellen innenpolitischen Turbulenzen gebieten es, die Analyse mit dem Justizressort zu beginnen. Justizministerin Alma Zadić hat den von ihrem Amtsvorgänger Clemens Jabloner prophezeiten „stillen Tod der Justiz“ schon im letzten Jahr verhindert. Bereits im Budget 2021 wurde das Justizbudget um 65 Millionen Euro erhöht, und nun steigen die Mittel ein weiteres Mal um 76,4 Millionen auf beinahe 1,9 Milliarden Euro. Rund 40 % dieser Anhebung fließen in den Personalbereich. Dadurch wurden die Staatsanwaltschaften in die Lage versetzt, zusätzliche Planstellen zu schaffen, um tatsächlich unabhängig und in angemessener Geschwindigkeit zu ermitteln. Ohne Alma Zadićs Beharrlichkeit in den Budgetverhandlungen wüssten wir heute mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht, welch abzulehnender Mittel sich Sebastian Kurz und eine Gruppe enger Vertrauter rund um den Ex-Kanzler bedienten, um an die Macht im Lande zu gelangen.

Doch auch jenseits der finanziellen Grundausstattung haben sich in dem – revolutionären Umtrieben eher abgeneigten – Ressort erstaunliche Dinge ereignet: Ein von den Grünen geführtes Justizministerium hat die Drei-Tage-Berichtspflicht abgeschafft, der zufolge Staatsanwaltschaften die jeweils zuständige Oberstaatsanwaltschaft drei Tage im Vorhinein von „bedeutenden Verfahrensschritten“ zu informieren hatten. Diese Praxis führte vermutlich in der Vergangenheit immer wieder dazu, dass Beschuldigte vorab von geplanten Hausdurchsuchungen und anderen Ermittlungsmaßnahmen erfuhren. Und der vormals beinahe allmächtige Sektionschef Christian Pilnacek wurde nicht nur suspendiert, er blieb es auch.



Ein Plus von 250 Prozent!


Wenden wir uns der Umwelt und dem Klimaschutz zu.



Ich denke, diese kleine Grafik ist recht aussagekräftig. Die Regierung erhöht das Klima- und Umweltbudget um nicht weniger als 252,6 Prozent oder 1,7 Milliarden Euro.


Das ist beinahe eine Vervierfachung, und man müsste vermutlich ziemlich lange in den Budgets der letzten Jahrzehnte suchen, um eine ähnlich substanzielle Anhebung in anderen Ressorts zu finden. Was hier geschieht, ist nichts weniger als gewaltig, auch wenn ein großer Teil dieser Summe in den Klimabonus fließt. Die Umweltförderung im Inland wurde um 116 Millionen auf knapp 421 Millionen Euro erhöht, das Kreislaufwirtschaftspaket ist mit 100 Millionen Euro, das Programm „Klimafitte Ortskerne“ mit über 11 Millionen Euro dotiert.

Bis 2025 sollen 735 Millionen Euro ausgeschüttet werden, um Anreize zum ökologisch bedenkenfreien Heizen zu schaffen und die Industrie dazu anzuhalten, die Produktion zu dekarbonisieren, und der Klimabonus schlägt bis zum Ende der Legislaturperiode gar mit insgesamt 5,5 Milliarden Euro zu Buche.

Auf der Ebene der Mobilität ist uns immerhin eine Aufstockung um 200 Millionen Euro (von rund 4,6 Milliarden auf rund 4,8 Milliarden Euro) gelungen. Es ist vorgesehen, bis 2025 430 Millionen Euro in das Klimaticket Regional, 680 Millionen Euro in die Förderung emissionsfreier Mobilität und geradezu unglaubliche 80 Millionen Euro in den Ausbau der Radinfrastruktur zu investieren. Den Vorgängerregierungen war der Radverkehr kaum eine Budgetzeile wert. Auch dieser Bereich zeigt, wie intensiv wir uns darum bemühen, neue Pflöcke in die Haushaltsplanungen zu treiben.

Über die Effekte, die die vor wenigen Tagen präsentierte ökologisch-soziale Steuerreform auslöst, habe ich bereits an anderer Stelle geschrieben. Ich möchte nur nicht unerwähnt lassen, dass dieses Vorhaben – in den Worten des Finanzministeriums, an denen zu zweifeln ich keine Veranlassung sehe – die größte Entlastung für Österreichs Steuerzahler:innen in der Geschichte der Zweiten Republik bedeutet.



In den Konzert- und Theatersälen, in den Galerien, Museen und Ausstellungshäusern des Landes ist längst nicht alles wieder gut. Das ist, denke ich, allen Menschen klar, die sich jemals mit den Lebensrealitäten von Künstler:innen und Kulturarbeiter:innen beschäftigt haben. Deren Situation war schon vor der Pandemie prekär und hat sich während der Lockdowns ein weiteres Mal verschärft. Insofern ist es nur folgerichtig, dass die Regierung die Mittel in Höhe von 60 Millionen Euro, die sie 2021 für Covid-19-Hilfen im Kulturbereich bereitgestellt hatte, nun im Kulturbudget 2022 fest verankert. Davon profitieren nicht nur die Bundestheater und Bundesmuseen, sondern in einem vergleichsweise hohen Ausmaß auch jene Fördernehmer:innen, die wir gemeinhin als „freie Szene“ bezeichnen. Das Kulturbudget beträgt im Jahr 2022 557,1 Millionen Euro. Bevor die Grünen dieses Ressort übernahmen, waren es 466 Millionen Euro. Nur falls demnächst wieder einmal aufgebrachte Kabarettist:innen über die angebliche Kulturvergessenheit der Grünen schwadronieren sollten.

Es stimmt, die Pflegereform lässt noch ein wenig auf sich warten. Doch ich weiß, dass im Gesundheitsministerium mit Hochdruck an diesem hochemotionalen, hochkomplexen, enorm kostspieligen und höchst dringlichen Thema gearbeitet wird, und bin voller Zuversicht, dass Minister Mückstein in naher Zukunft ein ausgewogenes Paket präsentiert, das taugliche Werkzeuge enthält, um den gewaltigen Herausforderungen zu begegnen, die im Bereich Pflege und Altenbetreuung auf uns warten. Kleine bis mittelgroße Zwischenerfolge lassen sich immerhin berichten: 2022–2024 stellt die Regierung 150 Millionen Euro für die Ausbildung zusätzlicher Pflegekräfte und 50 Millionen Euro für die Ausbildung von sogenannten Community Nurses bereit.

Darüber hinaus hat die Regierung die Mittel für Gewalt- und Extremismusprävention sowie für Delogierungsprävention und Wohnungssicherung erhöht. Die Grünen haben erfolgreich darauf gedrängt, den freiwilligen Kernbetrag für die UNHCR-Flüchtlingshilfe zu vervierfachen und 1,1 Millionen Euro für die Errichtung eines SOS-Kinderdorfes auf der griechischen Insel Lesbos zur Verfügung zu stellen. Das Budget für Frauen und Gleichstellung steigt um 5,5 Millionen auf 18,4 Millionen Euro und wird von zahlreichen Initiativen und Maßnahmen in anderen Ressorts (Gewaltschutz, Familienberatung, Kinderschutzzentren etc.) flankiert. Die Regierung erhöht rückwirkend die Schüler:innenbeihilfen für sozial Bedürftige. Sie will den Bezieher:innenkreis von rund 35.000 auf knapp 40.000 Personen erhöhen und dafür zusätzliche 11 Millionen Euro ausgeben. Wer aus all den nun aufgezählten Einzelmaßnahmen keinen gesellschaftlichen Gestaltungsanspruch und keine Handschrift der Grünen erkennt, hat meines Erachtens nicht besonders gut hingeschaut.


Das Schlusswort möchte ich der Wirtschaftswissenschafterin Margit Schratzenstaller vom WIFO überlassen, die gestern im Ö1-Mittagsjournal das Budget analysiert hat. Sie erkennt „Akzente in Richtung Zukunft“, und zwar sowohl „bei den Abgaben als auch bei der Steuerstruktur“. Die ökologisch-soziale Steuerreform biete „Entlastungen für alle Schichten“, wobei sie vorrangig auf den Mittelstand ziele. Die deutlichsten Akzente „sehe ich beim Klimaschutz“, sagt Schratzenstaller und beurteilt es als positiv, dass die CO2-Bepreisung überhaupt kommt, wenngleich sie sich – wie ich – eine etwas ambitioniertere Preisgestaltung gewünscht hätte. Sie betont aber auch, dass gewaltige strukturelle Brocken – Pensionen, Pflege, Föderalismus, Gesundheitssystem, Schulverwaltung – noch vor uns liegen.


Dieser Einschätzung kann ich mich weitgehend anschließen. Und ich meine, wenn selbst eine so kritische Ökonomin wie Margit Schratzenstaller positive Worte für das Budget findet, dann haben wir das eine oder andere richtig gemacht. Es liegt an uns, das Ziel des guten Lebens für alle nie aus den Augen zu verlieren; in jedem Fall ist es eine starke Motivation fürs Drablieba.


PS vom 11.11.: Mittlerweile hat auch der Fiskalrat Austria eine Kurzeinschätzung zur Steuerreform abgegeben, die ich den Leserinnen und Lesern dieses Blogs nicht vorenthalten will. Kurzfassung der Kurzfassung: gar nicht schlecht. Hier das Original: Pressemitteilung des Fiskalrates vom 03.11.


Das Ibiza-Video, hinlänglich bekannt, hat 2019 in Österreich ein politisches Erdbeben ausgelöst und die türkis-blaue Regierung gesprengt. Der damalige Vizekanzler Heinz-Christian Strache wurde untragbar, Sebastian Kurz höchstpersönlich zog die Reißleine.

Johannes Huber hat auf seinem blog https://diesubstanz.at/regierung/text-sebastian-kurz/ dankenswerterweise herausgearbeitet, was Kurz damals gesagt hat:


Im Sinne der Sacharbeit habe ich nicht bei der ersten Verfehlung die Zusammenarbeit beendet. Aber nach dem gestrigen (… Ereignis) muss ich sagen: Genug ist genug. Auch wenn die Methoden, die an Silberstein erinnern, verachtenswert sind: Der Inhalt ist, wie er ist. (…) Wirklich schwerwiegend sind die Ideen des Machtmissbrauchs und der Umgang mit dem Steuergeld und der Umgang mit der Presse.


Die FPÖ schadet mit ihrem Verhalten unseren Weg der Veränderung. Es ist ein Schaden für das Ansehen unseres Landes und es entspricht auch nicht meinem politischen Zugang, der Republik und den Menschen unseres Landes zu dienen. Vor allem aber habe ich in den Gesprächen mit der FPÖ heute nicht das Gefühl gehabt, dass (…) es eine wirkliche Bereitschaft gibt für eine tiefgreifende Veränderung auf allen Ebenen der Partei.


Jetzt ist Sebastian Kurz selbst mit Vorwürfen konfrontiert, die weit schwerer wiegen als alles, was Strache zur Last gelegt wurde. Kurz selber und die gesamte ÖVP versuchen jedoch, die Ermittlungen der WKSta als „konstruiert“, haltlos und falsch darzustellen. Kein Vergleich mit Ibiza, sozusagen. Und strafrechtlich sei sowieso nichts dran.

Strache hat mit den Äußerungen im Ibiza-Video kein strafrechtlich relevantes Faktum geschaffen. Trotzdem musste er gehen. Zu Recht. Weil es auch eine politische Verantwortung gibt, weil ein Vizekanzler der Republik Österreich mit der Last dieses Videos nicht mehr akzeptabel und nicht mehr handlungsfähig ist. Diesen Maßstab haben Sebastian Kurz und die ÖVP damals angelegt. Kurz selbst monierte insbesondere den „Umgang mit dem Steuergeld und den Umgang mit der Presse“.

Und nun soll dieser Maßstab nicht mehr gelten? Nun gilt für den Kanzler nicht, was für den Vizekanzler noch galt? Etwa weil es um die eigenen Taten geht? Bei einem durch unzählige Chatverläufe dokumentierten und von der Staatsanwaltschaft aufbereiteten Sachverhalt? Woher die Doppelzüngigkeit? Das Verhalten des Kanzlers und der ÖVP ist ethisch haltlos, faktisch absurd und politisch frivol. Man fühlt sich an die Dreistigkeiten des früheren israelischen Premiers Benjamin Netanjahu erinnert, der Korruptionsskandale am laufenden Band produzierte und schließlich von einer Regierungskoalition aus dem Amt gejagt wurde, deren einziger gemeinsamer Nenner die Ablehnung des Systems Netanjahu ist.


Nun, wir Grünen wollen die Maßstäbe, die Kurz bei Strache anlegte, auch beim Bundeskanzler angelegt wissen.

Strache hat im Ibiza-Video darüber schwadroniert, was er alles tun werde, wenn er erst an der Macht ist. Sebastian Kurz und sein engstes Umfeld gingen offenbar wesentlich weiter.

Es mögen sich bitte alle selber ein Bild machen, und das Dokument in seinen wesentlichen Teilen lesen. Sie finden es hier:

https://drive.google.com/file/d/1wKpAPo-L4nrVQ3piZKDZjZGbF9IRQ2X9/view.


Die Staatsanwaltschaft wirft Sebastian Kurz vor, er habe „das Verbrechen der Untreue nach § 153 Abs. 1 und 3 zweiter Fall StGB als Beteiligter nach § 12 zweiter Fall StGB und […] das Verbrechen der Bestechlichkeit nach § 304 Abs. 1 und 2 zweiter Fall als Beteiligter nach § 12 zweiter Fall StGB“ begangen.[1]Sie sieht Kurz als den Auftraggeber der korrupten Praktiken.[2]

„Sebastian KURZ ist die zentrale Person“, schreibt die WKSTA. Es „ist ersichtlich, dass er in allen wichtigen Belangen die Grundsatzentscheidungen trifft“. Wenn dann einmal „ein Problem dringend gelöst werden muss, bringt er sich unmittelbar […] selbst ein“ – etwa im März 2016, als es darum ging, der zögernden Sophie Karmasin das Projekt schmackhaft zu machen. Die „zentrale Rolle von Sebastian Kurz an den Tathandlungen“ ist für die Staatsanwaltschaft „deutlich ersichtlich“. „Dass bei der deutlich ersichtlichen streng hierarchischen Struktur der Gruppe ein derart komplexer Tatplan von den Mitbeschuldigten ohne Wissen und Wollen des Begünstigten KURZ ausgearbeitet und umgesetzt wurde, kann hingegen ausgeschlossen werden.“[3]

Die Justiz – also zumindest die WKSTA und der Richter, der die Hausdurchsuchung genehmigte – hat also hinreichenden Verdacht anzunehmen, dass Sebastian Kurz und ein Netzwerk aus engen Vertrauten „Inserate- und Medienkooperationsvereinbarungen aus sachfremden und nicht im Interesse des BMF [Finanzministeriums, Anm.] gelegenen Gründen“ mit der Zeitung Österreich abschloss. Im Gegenzug veröffentlichte Österreich zwischen 2016 und 2018 mutmaßlich nicht nur die frisierten Umfragen, sondern auch Artikel und Kommentare, die nicht als Werbeeinschaltungen, sondern als redaktionelle Beiträge gekennzeichnet waren. Eine Gruppe um Sebastian Kurz kaufte bei Österreich Inserate und erhielt dafür nicht nur den Abdruck der Inserate, sondern auch „relevante Berichte, die zu vorgegebenen Zeitpunkten […] in Medien der Fellner-Gruppe“ erschienen.[4] Die inhaltlichen Vorgaben stammten laut WKSTA von Sebastian Kurz und seinen engsten Beratern Gerald Fleischmann, Johannes Frischmann und Stefan Steiner.

Im September 2016 setzte der mittlerweile als Chef der ÖBAG abgesetzte Thomas Schmid, damals Kabinettchef im Finanzministerium, Sebastian Kurz per SMS darüber in Kenntnis, dass „die gesamte Politikforschung im Österreich [gemeint ist die Zeitung, Anm.] nun zur [im Akt unkenntlich gemachten Agentur, die die frisierten Umfragen im Auftrag der Gruppe um Kurz produzierte, Anm.] wandern“ werde. „Damit haben wir Umfragen und Co im besprochenen Sinne :-))“ Sebastian Kurz war über diese Medienmanipulationen also informiert, schließt die Staatsanwaltschaft daraus.

Sebastian Kurz war mit der bestellten Berichterstattung offenbar zufrieden. „Danke für Österreich heute“, schrieb er am 08.01.2017 an Schmid, der antwortete: „Immer zu Deinen Diensten :-))“ In Österreich stand an diesem Tag zu lesen: „ÖVP im Umfrage-Keller“, und die vermeintlich unabhängige, tatsächlich jedoch in den Diensten der Gruppe um Kurz stehende Meinungsforscherin gab in einem Interview zu Protokoll: „VP würde von Kurz-Wechsel profitieren“.

So weit, so unappetitlich.

Doch die Staatsanwaltschaft geht weiters davon aus, dass die Abrechnung der im Auftrag der ÖVP erstellten Umfragen auf verdeckte Weise über das Finanzministerium erfolgte, wodurch der Republik ein beträchtlicher finanzieller Schaden entstanden sei, der sich noch gar nicht genau beziffern lässt, jedoch in Millionenhöhe angesiedelt sein dürfte.


Fazit

So wie Straches Ibiza-Video liefern die SMS-Chats aus Kurz’ engstem Beraterkreis ein verstörendes Sittenbild. Anders als Strache im Ibiza-Video steht Kurz unter Verdacht, an Verbrechen beteiligt gewesen zu sein. Das ist eine völlig andere Dimension als die Ermittlungen wegen des Vergehens der Falschaussage im U-Ausschuss, hinsichtlich deren ich Kurz vor einigen Monaten noch verteidigt habe. So wie Strache nach dem Ibiza-Video ist Kurz – trotz der Unschuldsvermutung gegen seine Person – nach der Hausdurchsuchung im Bundeskanzleramt eine politische Zumutung. So wie Strache nach dem Ibiza-Video sollte nun auch Kurz politisches Verantwortungsbewusstsein zeigen und die Konsequenzen ziehen.







[1] https://drive.google.com/file/d/1wKpAPo-L4nrVQ3piZKDZjZGbF9IRQ2X9/view, S. 8 f. [2] https://www.derstandard.at/story/2000130217983/vorwuerfe-gegen-kurz-und-sein-umfeld-gegen-wen-ermittelt-wird (08.10.2021). [3] https://drive.google.com/file/d/1wKpAPo-L4nrVQ3piZKDZjZGbF9IRQ2X9/view, S. 66 f. [4] https://drive.google.com/file/d/1wKpAPo-L4nrVQ3piZKDZjZGbF9IRQ2X9/view, S. 22.

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