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"Es gibt Krisenzeiten, in denen nur das Utopische realistisch ist."
(George Steiner)
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Jeff Bezos lässt gern bauen. Die neue Yacht des Amazon-Gründers, stolze 127 Meter lang und damit das größte jemals gebaute Privatschiff, wird von dem Unternehmen Oceanco in einer Werft bei Alblasserdam, südöstlich von Rotterdam, gerade fertiggestellt. Nun führt der Wasserweg von der Werft ins offene Meer über die Nieuwe Maas, die, weil sie das historische Zentrum von Rotterdam vom Stadtteil Feijenoord trennt, von zahlreichen Brücken überspannt wird. Die Koningshaven-Brücke, eine 1927 gebaute, auch De Hef genannte Stahlkonstruktion, ist eine davon. Sie hat eine lichte Höhe von 46,5 Metern, und das ist für Amazon zu wenig. Die Yacht mit dem romantischen Namen Y721 passt nicht unten durch, die Dimensionen der denkmalgeschützten Brücke reichen für Bezos’ gigantischen Schiffsmast einfach nicht aus. Was also tun? Klar: die Brücke demontieren.

„Wer das Gold hat, macht die Regel“, wusste schon Frank Stronach, und ganz offensichtlich steht auch Jeff Bezos auf dem Standpunkt, dass sich mit genügend Geld jedes Problem und jeder Irrtum beheben lassen. Immerhin regt sich bereits ziviler Widerstand gegen die bizarren Pläne, zu denen sich die Rotterdamer Stadtregierung bisher lediglich abwiegelnd geäußert hat. Am 1. Juni soll Bezos’ Yacht mit faulen Eiern beworfen werden: „Rotterdam wurde von den Rotterdamern aus Trümmern gebaut, und wir nehmen die Stadt nicht für das Phallussymbol eines größenwahnsinnigen Milliardärs auseinander“, heißt es in der Beschreibung der Veranstaltung. Mit faulen Eiern auf Schiffe zielen – damit haben ja auch wir in Vorarlberg ein wenig Erfahrung. Wie auch immer: Dass Bezos – wie andere medienaffine Milliardäre auch – auf penisförmige Materialschlachten steht, hat er ja bereits mit seinem Ausflug ins Weltall unter Beweis gestellt. Über die Ästhetik toxischer Männlichkeit lässt sich bekanntlich bestens debattieren.


Amazon ist gerade dabei, ein dicht gewobenes logistisches Netz über ganz Europa auszuwerfen. In Österreich existieren zurzeit drei Verteilzentren, nämlich in Großebersdorf im niederösterreichischen Weinviertel sowie in Wien-Liesing und Wien-Simmering. In Klagenfurt erfolgte unlängst der Spatenstich für ein weiteres Lager, Standorte in Graz-Liebenau und Linz sind in Planung – und natürlich der Standort Dornbirn, der die Vorarberger Kommunal- und Landespolitik noch eine Weile beschäftigen wird.

Worum geht’s in aller Kürze? Amazon, vertreten durch das in Mödling ansässige Immobilienentwicklungsunternehmen Go Asset, hat an der Autobahnanschlussstelle Dornbirn-Nord ein 33.000 Quadratmeter großes Areal gefunden, das offenbar den logistischen und verkehrstechnischen Anforderungen des Konzerns genügt, und plant, hier ein Verteilzentrum zu errichten. Eine grundsätzliche Einigung mit der Eigentümerin des Grundstücks, der Gebrüder Ulmer Holding, scheint vorzuliegen.


Nun haben wir ein Problem. In vielen von uns – und ich nehme mich selbst überhaupt nicht aus – regt sich der Reflex, die Ansiedlung eines multinationalen Konzernriesen wie Amazon in unserem Bundesland schon einmal aus grundsätzlich moralischen Erwägungen abzulehnen. Denn Amazon repräsentiert den großen, bösen Wolf, den Godzilla des Internetgeschäfts, den wir in unserem Garten begreiflicherweise nicht haben wollen. Amazon, das ist irgendwie degoutant. Für eine politische Bewertung der Situation reicht aber das Gefühl das Ekels nicht aus; Gemeinde- und Landespolitik stehen vor der schwierigen Aufgabe, ihre Abneigung gegenüber den Begehrlichkeiten des Giganten aus Seattle mit Argumenten zu fundieren.

Ich denke, wir sollten unsere Einschätzung des Projekts auf zumindest vier unterschiedlichen analytischen Ebenen ansiedeln, die zu trennen leichter gesagt als getan ist: Wir müssen uns mit ökologischen (und verkehrspolitischen), sozialpolitischen, mikro- sowie makroökonomischen Aspekten der Praxis des Konzerns beschäftigen, um unser Nein zu untermauern.


Verkehr und Ökologie in Dornbirn-Nord


Meine Kollegin, die Dornbirner Stadträtin Juliane Alton, hat bereits angemerkt, dass es für das gesamte Betriebsgebiet rund um das von Amazon begehrte Objekt keinen Bebauungsplan gibt.[1] Ein solcher wäre aber dringend nötig, damit die politischen Entscheidungsträger:innen nicht nur mit dem konkreten Anlassfall, sondern auch mit zukünftigen, vermutlich ähnlich gelagerten Fragestellungen verbindlich umzugehen lernen. Juliane Alton regt unter anderem an: ausschließlich unterirdische Stellplätze, verpflichtende Mehrgeschoßigkeit, Photovoltaik in Kombination mit Dachbegrünung und Regenretention, parkähnliche Außenraumgestaltung, Erholungsraum für Angestellte, Baumaterialien aus der Region, Passivhausstandard.


Doch damit ist noch nicht die Frage geklärt, ob auf dem Gelände überhaupt gebaut werden soll. Immerhin handelt es sich dabei um einen der letzten unverbauten Grünkorridore gemäß der Vision-Rheintal-Karte von 2015, auf dem sich Gelbbauchunken, Flussregenpfeifer, Braunkehlchen und Biber aufhalten und eine große Vielfalt an Riedpflanzen gedeiht.


Davon abgesehen darf der Autobahnknoten rund um Dornbirn-Nord und den Achraintunnel schon jetzt mit Fug und Recht als Vorarlberger „Verkehrshölle“ bezeichnet werden. Es staut am Morgen, es staut am Abend, und dazwischen fließt der Verkehr nur zäh. Vom Ski-Tourismus und von den Wintersporttagesgästen am Wochenende fange ich gar nicht erst an. Ausgerechnet dorthin wollen wir ein Logistikzentrum bauen!? Die Transportfahrzeuge von Amazon würden den Achraintunnel, den wichtigsten Flaschenhals in den Bregenzerwald, noch stärker verstopfen, als das jetzt schon der Fall ist, und in Richtung Lauterach sind schon jetzt viel zu viele Autos unterwegs.


Interessanterweise richtet sich auch die parlamentarische Anfrage der SPÖ-Abgeordneten Manuela Auer auf die vermuteten Verkehrsprobleme – und nicht, wie ich angenommen hätte, auf die arbeitsrechtlichen und sozialen Zumutungen, die Amazon weltweit praktiziert. Aber womöglich kommt hier noch ein Nachzieher.


Denn gegen diese verkehrspolitischen Befürchtungen besitzt Amazon ganz gute Argumente, wie uns ein Blick nach Graz zeigt. Auch dort will der Konzern ein Verteilzentrum am Stadtrand mit sehr günstiger Verkehrsanbindung an die Autobahn und an die bevölkerungsreiche Innenstadt errichten. Es hat sich Protest formiert, sowohl die Stadt Graz als auch eine Bürger:inneninitiative berufen gegen die Entscheidung des Landes Steiermark, auf die Umweltverträglichkeitsprüfung zu verzichten. Doch Amazon hat angekündigt, bei der Zustellung der Pakete ausschließlich auf E-Mobilität zu setzen. Das ist nur möglich, weil die Wege von der geplanten Drehscheibe in die Haushalte kurz sind. Würde Amazon nicht in Graz-Liebenau bauen, müsste sich der Konzern wohl in einem großen Logistik-Gebiet rund 25 Kilometer südlich von Graz ansiedeln (auch die Post und DHL haben dort ihre Verteilzentren), von wo aus, heißt es, die Zustellung nur mit herkömmlichen, fossil angetriebenen Fahrzeugen möglich wäre. Die Stadt Graz hat bereits ein Verkehrsgutachten erstellen lassen, das ein zusätzliches Verkehrsaufkommen von rund 800 Transportern pro Tag berechnet hat, von denen keine signifikanten Auswirkungen auf den Gesamtverkehr in Graz ausgehen dürften; auch Umwelt- und Lärmgutachten haben unproblematische Resultate ergeben. Die Anlieferung der am nächsten Tag zuzustellenden Waren (in Liebenau würde ebenso wie in Dornbirn nicht gelagert, sondern nur verteilt) würde nachts an sieben Tagen die Woche erfolgen, in Graz rechnet man mit 14–20 Lkw pro Nacht, zu Ostern und zu Weihnachten vermutlich mehr. Diese Rahmenbedingungen sind – das sagen zähneknirschend selbst Grünen-Politiker:innen in Graz – aus verkehrspolitischer und ökologischer Perspektive kein Riesendrama angesichts des bereits vorhandenen hohen Verkehrsaufkommens.


Beschäftigungspolitik à la Amazon – eine sozialpolitische Notlage


Amazon ist mittlerweile der zweitgrößte Arbeitgeber in den USA, doch die schieren Zahlen sprechen nur scheinbar für die Qualitäten des Konzerns. Für die Menschen, die in Amazons Auslieferungszentralen arbeiten, hat sich vor einigen Jahren der zynische Spitzname „Amazombies“ etabliert, weil viele nur dank Schmerzmitteln, die Amazon in eigens aufgestellten Automaten gratis zur Verfügung stellte, arbeitsfähig bleiben. Auch in Österreich häufen sich Berichte von 12-Stunden-Arbeitstagen, von unbezahlten Überstunden, totaler Überwachung und bizarr anmutenden Bestrafungssystemen, insbesondere in den Sub-Firmen, die Amazon für seine Zustelldienste beschäftigt. Besonders perfide: Wer nie in Krankenstand geht, erhält Bonuszahlungen; manchmal erhalten ganze Teams Boni, wenn über einen bestimmten Zeitraum hinweg kein Teammitglied krank war. Das erhöht die peer pressure, den Gruppendruck, ganz gewaltig, weil begreiflicherweise niemand das schwarze Schaf sein möchte, wegen dessen krankheitsbedingter Abwesenheit das gesamte Team leer ausgeht.


Amazon übt großen Druck auf seine Mitarbeiter:innen aus. Der Konzern hat ein ausgeklügeltes System zur Verbesserung beziehungsweise Kündigung von Beschäftigten etabliert, die als leistungsschwach gelten. Sobald ein:e Manager:in eine:n Angestellte:n als Schwachpunkt identifiziert, landet er oder sie in einem Coaching-Programm namens „Focus“. Wer sich dort nicht bewährt, wird in ein anderes Programm namens „Pivot“ versetzt und steht bald einer firmeninternen Jury gegenüber, die das Schicksal der Betroffenen in Händen hält. Offenbar hält Amazon an dem Prinzip fest, Jahr für Jahr einen bestimmten Prozentsatz an Arbeitnehmer:innen loszuwerden. Man hat diesem Mechanismus sogar einen eigenen Terminus gegeben: “unregretted attrition” – „unbedauerter Verschleiß“.


Es erübrigt sich beinahe zu sagen, dass Amazon in den USA die Bildung von Gewerkschaften behindert. Die deutsche Gewerkschaft ver.di liegt seit 2014 im Dauerstreit mit Amazon, weil der Konzern die tarifliche Absicherung seiner Arbeitnehmer:innen mittels Kollektivverträgen (in Deutschland sagen sie Tarifverträge dazu) verweigert. Immerhin gibt es in den deutschen Amazon-Betriebsstätten seit 2014 Betriebsräte.


Schlecht bezahlt, überwacht, unter Druck, nicht wertgeschätzt – ein Arbeitsklima der Ausbeutung. Arbeitsbedingungen dieser Art kann in Vorarlberg niemand ernsthaft herstellen wollen. In Graz geht man übrigens davon aus, dass in dem Liebenauer Verteilzentrum rund 160 Menschen Beschäftigung finden werden, darin sind die Zusteller:innen nicht inkludiert.


Der Tod des Einzelhandels


Die Post in ihrer Eigenschaft als Platzhirsch des Zustelldiensts schlägt Alarm: Der Vorarlberger Postgewerkschafter Franz Mähr gab in der Neuen zu Protokoll, er habe „aus Insiderkreisen gehört“, Amazon plane, „von Vorarlberg aus in den süddeutschen Raum und ins Tiroler Oberland zu liefern, von Touren in die Schweiz sei ebenfalls die Rede. Mähr spricht von 400 Lieferfahrzeugen.“[2] Man muss betonen, dass das unbestätigte Informationen sind. Die Stadt Dornbirn gab an, sie habe vom Projektwerber erfahren, dass nur innerhalb von Vorarlberg ausgeliefert werden solle.[3]

Doch wie auch immer: Die Befürchtungen der Post sind legitim, unabhängig davon, ob der ehemalige Staatsbetrieb sich lediglich um sein eigenes Geschäft sorgt, ob ihm die prognostizierte Verkehrsbelastung aus ökologischen Gründen widerstrebt oder ob er einen Preiskampf fürchtet, der sich generell negativ auf die Löhne der Zuliefer:innen auswirkt.


Der Buchhandel liegt bereits im Sterben – Ausnahmen wie die kürzlich in Dornbirn eröffnete Buchhandlung bestätigen, fürchte ich, die Regel –, und tatsächlich läuft Amazons Unternehmenspolitik auf die Vernichtung des gesamten Einzelhandels hinaus. Bei Amazon gibt es alles zu kaufen, selbst regional hergestellte Produkte – aber eben nur zu den Bedingungen von Amazon: Wer über Amazons „Marktplatz“ verkaufen will, entrichtet dafür eine Gebühr, die sich zwischen sechs und 15 % des Verkaufspreises bewegt – eine Art Privatsteuer also, die der Konzern hier einhebt. Wer sich diesem Regelwerk und seinen Knebelparagrafen entgegenstellt, geht unweigerlich unter – nur wenige schaffen es, in einzelnen Nischen dagegenzuhalten, vielleicht auch deshalb, weil der Scheinwerfer von Amazon sie noch nicht erfasst hat.

Nun lässt sich argumentieren, dass dieser Befund wohl stimme, dass die Errichtung eines Verteilzentrums in Dornbirn auf diese Dynamik aber keinen Einfluss habe, weil es den Menschen, die bei Amazon bestellen, ja völlig gleichgültig sei, von wo das gewünschte Produkt geliefert wird. Hauptsache, es ist am nächsten Tag im Postkasten. Doch ein solches Argument übersieht, dass das Dornbirner Verteilzentrum an einem der verkehrsreichsten Punkte Vorarlbergs errichtet und schon allein aufgrund seiner Existenz, seiner Betriebsamkeit, seiner Beleuchtung und seiner Firmenschilder ein weithin sichtbares, in Geld kaum aufzuwiegendes Werbesymbol darstellen würde, das in die Köpfe der Pendler:innen eindringt und schließlich die Wörter „Einkaufen“ und „Amazon“ zu Synonymen werden lässt.


Global Players


Das bringt mich zum letzten Punkt meines langen Arguments. Amazon hat 2020 einen weltweiten Umsatz von 386,1 Milliarden US$ erzielt. Diese Marktmacht erdrückt alle anderen Marktteilnehmer:innen. Jeff Bezos besaß Anfang März 2020 rund 113 Milliarden US$, im Juli desselben Jahres bereits 182,6 Milliarden US$. Er ist der mit Abstand größte Profiteur der Corona-Pandemie. Kein Wunder, dass ihm die vorübergehende Demontage einer Brücke in Rotterdam keine schlaflosen Nächte bereitet.

Amazon versucht so aggressiv wie kaum ein anderes Unternehmen Einfluss auf die Gesetzgebung in den USA zu nehmen: „Amazon lobbyierte gegen die Umsatzsteuer, die das Unternehmen bei einem Großteil der Verkäufe von Drittanbietern noch immer nicht berechnete, obwohl diese inzwischen mehr als die Hälfte seines US-Einzelhandelsgeschäfts ausmachten. Es lobbyierte gegen die Regulierung von Drohnen, von denen es hoffte, sie zum Ausliefern von Paketen einzusetzen. Es lobbyierte, um bei der amerikanischen Post die vergünstigten Zustellpreise zu behalten. Es lobbyierte bei der Auftragsvergabe der Regierung, weil es hoffte, zentrale Anlaufstation bei allen Anschaffungen des Bundes zu werden. Amazon lobbyierte gegen jede Bemühung, das Unternehmen vom Kartellamt prüfen zu lassen.“[4] Es ist nicht zu erwarten, dass Amazon in Europa zurückhaltender agieren würde. Doch Jeff Bezos selbst macht sich die Finger nicht schmutzig; er schießt lieber 90-jährige Schauspieler ins Weltall (wobei ich William Shatner den Ausflug gönne). Amazon beschäftigt Legionen von Lobbyist:innen und Scharen von Subunternehmen, wie die erwähnten Immobilienentwickler von Go Asset, die bar jeglicher persönlicher Betroffenheit quasi automatenhaft die Vorgaben der Konzernzentrale in Seattle umsetzen. Repräsentant:innen von Amazon selbst sind in Dornbirn bisher noch nicht in Erscheinung getreten.


Aber klar ist auch: Wir müssen uns schon auch selbst bei der Nase nehmen und unser Konsumverhalten ändern. Wer eifrig bei Amazon kauft, dessen Krokodilstränen hinsichtlich der Arbeitsbedingungen der zumeist selbständig tätigen Zusteller:innen kann ich politisch nicht so recht ernst nehmen. Wer nicht länger als zwei Tage warten möchte, bis er oder sie das gewünschte Buch oder Parfum oder was weiß ich in Händen hält, weil er oder sie verlernt hat, das Wort Bedürfnisaufschub zu buchstabieren, kann nun nur im Rahmen heftiger kognitiver Dissonanz gegen die Logistikpläne von Amazon protestieren. Das sollten wir bedenken. Amazon betrifft uns alle.

[1] Vorarlberger Nachrichten, 14.01.2022. [2] Neue Vorarlberger Tageszeitung, 29.01.2022. [3] Ebd. [4] Alec MacGillis: Ausgeliefert. Amerika im Griff von Amazon. Frankfurt: Fischer 2021, S. 109.


  • Johannes Rauch

Ein Blick auf die Global Right to Information Rating Map genügt, und du willst dich als demokratiebewusster Staatsbürger vor Scham am liebsten unter der Bettdecke verkriechen. Hinsichtlich seines Zugangs zu öffentlichen Informationen teilt sich Österreich den letzten – tatsächlich den allerletzten! – Platz mit der Republik Palau, einem pazifischen Inselstaat mit rund 19.000 Einwohner:innen, der bis 1994 unter US-amerikanischer Verwaltung stand. Wir befinden uns in der Gesellschaft von Weißrussland und Tadschikistan, und selbst die notorisch intransparenten Steueroasen Liechtenstein und Monaco schneiden bei diesem Ranking, das nicht weniger als 61 Indikatoren in sieben Kategorien zusammenfasst, besser ab. Da ist es nicht einmal ein schwacher Trost, dass auch Deutschland unter den zehn letztplatzierten Ländern dieses Rankings aufscheint.[1]


Kann nicht sein, denken Sie? Unmöglich, wollen Sie ausrufen? Das ging mir auch so. Doch tatsächlich gibt kein anderer EU-Mitgliedstaat seinen Bürger:innen so wenige Möglichkeiten zum Einblick in amtliche Dokumente wie Österreich. Nirgendwo sonst in Europa genießen Amtsgeheimnis und Amtsverschwiegenheit verfassungsrechtliche Absicherung.


Das ist nicht nur ein gesetzliches, das ist ein kulturelles Problem. In einem Klima, das ohnehin schon von fehlendem Vertrauen gegenüber staatlichen Autoritäten geprägt ist, führen Intransparenz und Zögerlichkeit bei der Bereitstellung von Informationen zu Abneigung, Abwendung, Zynismus und zu der Auffassung, dass die Demokratie ausgehöhlt werde und der Zugang zu Informationen ein Privileg einiger weniger Profiteur:innen und kein bürgerliches Grundrecht sei. Und aus dieser distanzierten Position verstärkt sich das Misstrauen gegenüber den demokratischen Institutionen, was wiederum für mehr Distanz und dies wiederum für mehr Misstrauen sorgt. Die klassische Konstruktion einer Abwärtsspirale.


Von den Auswüchsen dieser Kultur lesen wir täglich in den Medien. Wir erleben eine geradezu unglaubliche Häufung an Korruptionsfällen: Nationalratspräsidenten führen Interventionslisten, weil sie sonst den Überblick verlieren würden, welcher Günstling nun mit welchem Posten versorgt werden soll. Spitzenpolitiker kaufen sich Berichterstattung in Tageszeitungen, indem sie dort Inserate schalten und gefälschte Umfragen veröffentlichen lassen. Parteien überschreiten sorglos die gesetzlichen Rahmen der Wahlkampfkosten, weil die Sanktionen im Vergleich zu den zu erwartenden zusätzlichen Einnahmen lächerlich sind. Dieselben Parteien können sich diese Wahlkampf-Materialschlachten nur leisten, weil sie Spenden erhalten, die zu einem großen Teil nicht als solche deklariert werden. Dafür sorgen überteuerte Anzeigen, die spendierfreudige Unternehmen in parteinahen Zeitschriften abdrucken lassen. Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse wissen schon gar nicht mehr, mit welcher der vielen Materien sie sich zuerst beschäftigen sollen, und werden von den Verwaltungen häufig in ihrer Arbeit behindert, indem entweder zu wenige, zu viele oder überwiegend geschwärzte Unterlagen geliefert werden.


Wen wundert es angesichts dieser innenpolitischen Melasse, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Entscheidungsträger:innen dieses Landes auf einen noch nie dagewesenen Tiefstand gesunken ist!?


Badagnani – Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4129522


Ein Informationsfreiheitsgesetz steht ja nicht erst seit gestern auf der Agenda der Grünen, sondern ist seit vielen Jahren fester Bestandteil jedes Grünen Wahlprogramms. Das Koalitionsübereinkommen sieht ab Seite 18 Maßnahmen zur Informationsfreiheit vor, darunter die Abschaffung des Amtsgeheimnisses und der Amtsverschwiegenheit, die Pflicht zur aktiven Informationsveröffentlichung, das Recht auf den gebührenfreien Zugang zu Informationen oder das einklagbare Recht auf Informationsfreiheit. Die Regierungsparteien haben vor knapp einem Jahr, am 22. Februar 2021, einen Ministerialentwurf präsentiert, der auf diese und einige andere Punkte Rücksicht nimmt und zu dem nicht weniger als 189 Stellungnahmen eingelangt sind. Am 19. April 2021 endete die Frist für Stellungnahmen, seither ist zumindest auf der Ebene des Gesetzwerdungsprozesses nichts passiert. Die zuständige Verfassungsministerin Karoline Edtstadler hinterlässt einen resignierten Eindruck, wenn sie im Ö1-Journal um 8 am 15. Februar ausrichten lässt, die Überarbeitung des Ministerialentwurfs „mache keinen Sinn, weil zwar alle die Informationsfreiheit befürworten würden, nur nicht im eigenen Bereich“.


Besonders Länder und Gemeinden stehen in Sachen Informationsfreiheit mit allen Gliedmaßen auf der Bremse, kommt mir vor. Warum, bleibt rätselhaft: Denn alle demokratischen Kontrollinstrumente bleiben stumpf, wenn sie nicht vom Recht auf Akteneinsicht, von der Pflicht zur Offenlegung von Verträgen und Auftragsvergaben begleitet werden. Ich unterstelle gar nicht, dass in solchen sumpfigen Biotopen die Korruption blüht, aber dass der entsprechende Anfangsverdacht entsteht, erscheint mir nachvollziehbar. Einige Beispiele:

+ Die Protokolle der Grundverkehrskommissionen sind nicht öffentlich. Es bleibt geheim, wer welche Grundstücke zu welchem Preis kauft und wer wie viel Bauland hortet.

+ Unzählige von der öffentlichen Hand beauftragte Gutachten sowie Stellungnahmen und Verträge bleiben in verschlossenen Schubladen liegen.

+ Österreich besitzt kein generelles Akteneinsichtsrecht und kein wirkungsvolles Lobbying-Register.

+ Trotz der österreichischen Transparenzdatenbank bleibt das Förderwesen im Lande undurchsichtig und unübersichtlich.

+ Die Reihungslisten für Bewerber:innen auf Ämter in der Verwaltung oder in Unternehmen, die der Rechnungshofkontrolle unterliegen, bleiben geheim.


In Schweden haben es Korruption und Mauschelei ungleich schwerer als in Österreich, und zwar nicht deshalb, weil dort die moralisch gefestigteren Menschen leben, sondern weil sich dort, gestützt durch eine Reihe höchstgerichtlicher Urteile, über Jahrzehnte hinweg eine Kultur der Transparenz etabliert hat. Hierzulande gilt: Geheimhaltung ist die Regel, Offenlegung die Ausnahme. Dieses Prinzip müssen wir auf den Kopf stellen, wenn wir uns als Demokratie ernst nehmen.

Zugleich muss uns klar sein, dass wir das geschwundene Vertrauen nicht mit Bemühungen um Transparenz zurückgewinnen können. Vertrauen und Transparenz sind, wie der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han vor nicht allzu langer Zeit beobachtet hat, Gegensatzpaare. Transparenz ist dort nötig, wo kein Vertrauen existiert, aber sie befestigt das Misstrauen. Denn würde ich vertrauen, brauchte es keine Transparenz. Ich behaupte, Vertrauen ist die volatilste Währung, die der Mensch kennt. Unglaublich schwer anzuhäufen und extrem leicht zu verlieren. Der Wiederaufbau von Vertrauen führt aber nicht über die Transparenz, so wichtig Informationsfreiheits- und Transparenzgesetze sein mögen. Vertrauen lässt sich, davon bin ich überzeugt, nur dann wiederherstellen, wenn Ankündigung und Tat, wenn Intention und Umsetzung in einem kongruenten Verhältnis stehen – wenn also wir Politikerinnen und Politiker Handlungen setzen, die unseren Haltungen und Absichten entsprechen, und das über einen längeren Zeitraum hinweg. Das klingt banal, ist aber gerade in unsicheren Zeiten mit wechselnden Mehrheiten unendlich schwierig, aber nichtsdestoweniger notwendig.


Wenigstens lässt sich auf der Ebene der Parteienförderung und Parteienfinanzierung Bewegung beobachten. Die Klubobleute von Vorarlberger ÖVP und Vorarlberger Grünen, Roland Frühstück und Daniel Zadra, sorgten Ende letzter Woche für österreichweites Aufsehen, weil sie eine grundlegende Neuregelung der Parteienförderung in Vorarlberg präsentierten, die darauf hinausläuft, dass alle Inserate, Spenden und Subventionen künftig lückenlos veröffentlicht und dass die Wahlkämpfe kürzer und billiger werden müssen. Die Details dieses Vorschlags werden in den nächsten Tagen mit der Opposition finalisiert. Möge dieses Paket Vorbildwirkung entfachen und Wind in die Segel der Verhandlungen auf Bundesebene blasen!


[1] Wobei mir klar ist, dass Listen dieser Art stets ein Unsicherheitsfaktor anhaftet, was ihre Methodik betrifft, und daher lediglich cum grano salis zu genießen sind.

  • Johannes Rauch

Nebenvereinbarung: „Wie böse ist das denn!?“ – Keine Nebenvereinbarung: „Wie naiv kann man denn sein, bitte!?“


Ich muss einiges klarstellen.

Also: Die wesentlichen Teile eines Regierungsübereinkommens werden zwischen zwei (oder mehr) Koalitionspartnern in einem intensiven Prozess ausverhandelt, festgelegt und verschriftlicht. Darin enthalten sind die programmatisch-politischen Schwerpunkte, auf die zu einigen man sich durchgerungen hat.

Nicht enthalten ist in einem solchen Programm die Feinabstimmung des Räderwerkes, angefangen von der Besetzung von Aufsichtsräten, bis zu Bestellungen, die die Regierung vorzunehmen hat, von der EU-Kommissar:in über Richter:innen an den Höchstgerichten bis hin zu Führungsrollen der Verwaltung.

Nicht enthalten ist in einem solchen Programm, wie die Koalitionsparteien mit allfälligen unterschiedlichen Positionen und Konflikten umzugehen gedenken.

Doch die Regelung solcher Fragen – nennen wir sie „Machtfragen“ – ist für das Funktionieren einer Koalition entscheidend, insbesondere dann, wenn die Partner ungleich groß sind. Werden diese Fragen nicht vorab geklärt, könnte der größere Partner aufgrund seines höheren Gewichts jedes Detail, von dem im Koalitionsvertrag nicht die Rede ist, im Alleingang bestimmen. Damit würde sich aber jegliche Zusammenarbeit ad absurdum führen: daher “Sideletters”.

Außerhalb der Politik nennen sich diese “Sideletters” übrigens Nebenabsprachen und sind dermaßen normal und üblich, dass niemand je davon spricht, geschweige denn sie zu einem Skandal hochstilisiert. Wer behauptet, in Verhandlungen gehe es immer nur um Sach-, nie um Personalfragen, leidet unter mangelnder politischer Erfahrung. Und nein, diese Nebenvereinbarungen müssen nicht veröffentlicht werden. Denn sie sollen Vertrauen dort bilden, wo das Eis dünn ist. Vertrauen in heiklen Bereichen entsteht durch Vertraulichkeit. Das sind die zurzeit ungeschriebenen Gesetze von Macht und Politik, ob man sie mag oder nicht. Abhilfe könnte das von den Grünen seit langer Zeit geforderte Informationsfreiheitsgesetz schaffen, das die Abschaffung des Amtsgeheimnisses ebenso inkludiert wie ein umfassendes Transparenz- und Parteiengesetz. Daran arbeiten wir, seit diese Koalition ihre Arbeit aufgenommen hat (siehe das Regierungsprogramm der Regierung, S. 17–19; die entsprechenden Entwürfe stehen gerade in intensiver Verhandlung); doch ein solches Gesetzespaket ist ein Ergebnis, nicht die Vorausbedingung der Regierungsarbeit.


Die scheinbaren „Kuhhändel“


Erstens: Eva Schindlauer wurde ORF-Finanzdirektorin, zuvor war sie Geschäftsführerin des Senders ORF III. Stefanie Groiss-Horowitz, vormals Senderchefin von Puls4, übernahm den Posten der ORF-Programmdirektorin. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie nahe die beiden Frauen den Grünen stehen, an ihren Kompetenzen und ihren Fähigkeiten, den ORF weiterzuentwickeln, hege ich keinerlei Zweifel. Diese beiden Bestellungen sind wohl nicht zufällig erfolgt, und ich zweifle stark daran, dass die beiden Managerinnen unter einer anderen Regierungskonstellation zum Zug gekommen wären. Zur Frage vom Frauenanteil in Führungspositionen im ORF hat auch Lothar Lockl vor nicht allzu langer Zeit einiges gesagt.


Zweitens: Ich betrachte es als Verhandlungserfolg, dass den Grünen nun das Vorschlagsrecht bei der Wahl des ORF-Stiftungsratsvorsitzenden zusteht. Wer nun aufjault und von „Postenschacher“ spricht, hat sich das Prozedere um die Bestellung dieser Position offenkundig (noch) nicht genau angesehen. Der oder die Stiftungsratsvorsitzende wird von den Mitgliedern des ORF-Stiftungsrats gewählt. In diesem Gremium hält die ÖVP eine satte absolute Mehrheit; ohne eine Vereinbarung auf Koalitionsebene hätte die ÖVP also ganz einfach eine Kandidatin oder einen Kandidaten ihrer Wahl durchsetzen können. Sauber? Geht so. Sollte der ORF dem Einfluss der Parteipolitik entzogen werden? Selbstverständlich. Dafür kämpfen die Grünen seit Jahrzehnten. Doch dafür gibt es derzeit keine parlamentarische Mehrheit. Was die FPÖ gemeinsam mit der ÖVP hier schon ganz konkret festgeschrieben hat – man denke nur an die paktierte Abschaffung der GIS-Gebühren –, sollte auch feinsinnigeren Gemütern zu denken geben.


Drittens: Die Besetzung von Stellen an den obersten Gerichtshöfen ist eine politisch überaus heikle Angelegenheit, weil hier selbstverständlich entscheidende Weichen in der Rechtsprechung mit einer Perspektive von Jahrzehnten gestellt werden. Die Abtreibungsdebatten, die in den USA nach der Bestellung von Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett an den Supreme Court mit unglaublicher Heftigkeit aufgeflammt sind, zeigen uns, welches Gewicht Verfassungsrichter:innen im politischen Prozess haben.

In Österreich werden die Mitglieder und Ersatzmitglieder vom Bundespräsidenten ernannt. Für die Position des Präsidenten und der Vizepräsidentin hat die Bundesregierung das Vorschlagsrecht, sie nominiert außerdem sechs Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter sowie drei Ersatzmitglieder. Die weiteren Mitglieder und Ersatzmitglieder schlagen Nationalrat und Bundesrat vor.

Ich denke, es ist nachvollziehbar, dass die Grünen, wenn sie denn schon Einfluss auf entsprechende Entscheidungen nehmen können, niemals eine Klimawandelleugnerin oder einen Abtreibungsgegner für die Berufung an den Verfassungsgerichtshof vorschlagen würden.


Viertens: Klimaschutzministerin Leonore Gewessler hat den Bau des Lobautunnels gestoppt. Glaubt wirklich irgendjemand, die ÖVP hätte dem Ende für den Lobautunnel zugestimmt? Eben. Justizministerin Alma Zadić hat Sektionschef Christian Pilnacek suspendiert. Glaubt wirklich irgendjemand, die ÖVP hätte der Absetzung ihres mächtigsten Verbündeten im Justizministerium zugestimmt? Eben. Doch in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich agieren die Ministerien unabhängig und ohne dass der Koalitionspartner direkt darauf Einfluss nehmen könnte. Daher hat eben auch die ÖVP festhalten lassen, dass das Bildungsministerium ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen dekretieren könnte. Es ist im Übrigen Harald Walser und einigen anderen Verhandler:innen zu verdanken, dass dieses Ansinnen nicht Teil des Koalitionsübereinkommens wurde – weil die Grünen einem solchen Vorgehen niemals zustimmen würden. Ganz abgesehen davon wissen auch die Jurist:innen in den Reihen der ÖVP, dass ein solcher Erlass vom Verfassungsgerichtshof aufgrund von Rechtswidrigkeit mit großer Sicherheit aufgehoben würde. Es ist daher völlig widersinnig, den Kopftuchverbot-Erlass und die Wahl des ORF-Stiftungsratsvorsitzenden in einen „Quid pro quo“-Konnex bringen zu wollen. Die beiden Angelegenheiten stehen weder in sachlichem noch strukturellem Zusammenhang, und ein Erlass über das Kopftuchverbot wäre, wie angeführt, völlig substanzlos. Auf so einen miserablen Deal würde sich die ÖVP, so viel kann ich aus eigener Erfahrung sagen, niemals einlassen.


Fünftens: Zur Bestellungspraxis ein paar Beispiele aus dem Klimaschutzministerium. Kurt Weinberger, Vorstandsvorsitzender der Hagelversicherung, wurde als ÖBB-Aufsichtsrat verlängert. Brigitte Ederer, langjähriges Vorstandsmitglied der Siemens AG, wurde neu in den ÖBB-Aufsichtsrat berufen. Grüne Parteisoldat:innen? Wohl kaum, sondern vielmehr Besetzungen, bei denen Ministerin Leonore Gewessler ausschließlich die Kompetenz der betroffenen Personen ins Zentrum stellte. Siegfried Stieglitz (Asfinag) und Kathrin Glock (Austro Control) gehören den jeweiligen Aufsichtsräten hingegen nicht länger an. Die Gründe hierfür lassen sich nachlesen und haben jedenfalls nichts mit fehlender grüner Parteizugehörigkeit zu tun.


Sechstens: Was emphatisch „Hacklerregelgung“ genannt wird, war eine sozialpolitische Maßnahme, die die abschlagsfreie Pensionierung mit 62 Jahren garantieren sollte, wenn die betroffene Person 45 Jahre gearbeitet hatte. Dieses Modell kam, wie wir seit einiger Zeit wissen, praktisch ausschließlich Männern zugute, und „Hackler“ im Sinne von Menschen, die körperliche Schwerstarbeit verrichten, waren kaum darunter. Die aktuelle Bundesregierung hat anstelle der „Hacklerregelung“ nun den sogenannten „Frühstarterbonus“ eingeführt, der Frauen in verstärktem Ausmaß zugutekommen soll und den etwa Wifo-Ökonomin Christine Mayrhuber als „zielgerichtetes Mittel gegen Altersarmut“ betrachtet. Die ÖVP wollte den Ersatz der „Hacklerregelung“ durch den „Frühstarterbonus“ aus taktischen Erwägungen nicht ins Koalitionsübereinkommen aufnehmen, um absehbare Angriffe der SPÖ zu vermeiden, und die Grünen haben dieser Vorgehensweise zugestimmt, zumal es inhaltlich keine Divergenzen gab. Sauber? Naja. Doch Taktik gehört nun einmal zum politischen Geschäft, und wer diese Prämisse glaubt ignorieren zu können, wird in der politischen Praxis rasch eines Besseren belehrt. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.

Und nur nebenbei: Diejenigen, die nun aufgrund der Nebenvereinbarungen vor Empörung platzen, sind nicht selten dieselben Personen, die früher die Ansicht vertreten haben, die Grünen ließen sich von der ÖVP unablässig über den Tisch ziehen und seien der türkisen Machtmaschine nicht gewachsen.


Die Augenfälligkeit des Zeitpunkts


Es ist natürlich kein Zufall, dass diese Zusatzvereinbarungen ausgerechnet jetzt verbreitet werden, kurz vor dem Beginn des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der sich vor allem mit dem Verdacht der Korruption in der ÖVP beschäftigen wird. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber beständig. Nichts fürchtet der junge Altkanzler Sebastian Kurz so sehr wie das Szenario, neuerlich vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss erscheinen und unter Wahrheitspflicht aussagen zu müssen – zum Stil und zum Inhalt zahlloser Chats, zur dubiosen Finanzierung seiner Wahlkämpfe, zu bestellten Meinungsumfragen und gekaufter Berichterstattung im Boulevard und vielem mehr.

Kurz’ einziger Ausweg aus der Suppe, die er sich selbst eingebrockt hat: Neuwahlen. Denn damit wäre der U-Ausschuss fürs Erste obsolet und müsste neu konstituiert werden, sobald ein neuer Nationalrat angelobt wäre. Daher folgt die Bubentruppe um Kurz der Devise des langjährigen Donald-Trump-Chefberaters Steve Bannon: “Flood the zone with shit!”


Was wir hier also erleben, ist der Versuch des Ex-Kanzlers und seiner Vertrauten, Rache am ehemaligen Koalitionspartner zu üben, Dreck in alle Richtungen zu werfen, möglichst viel medialen Schaum zu schlagen und den Eindruck hervorzurufen, es seien ohnehin alle Parteien gleich und das politische System des Landes sei an der Wurzel verdorben. So weit, so durchschaubar. Ob der beleidigten Kurz-Kamarilla dieses Manöver gelingt, hängt nicht zuletzt von der Fähigkeit der öffentlich-rechtlichen und privaten Medien zum selbständigen Analysieren, zur differenzierten Berichterstattung ab. Heucheleien helfen uns nicht weiter.

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