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"Es gibt Krisenzeiten, in denen nur das Utopische realistisch ist."
(George Steiner)
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  • wolfgangpendl

Ein Blick auf die Global Right to Information Rating Map genügt, und du willst dich als demokratiebewusster Staatsbürger vor Scham am liebsten unter der Bettdecke verkriechen. Hinsichtlich seines Zugangs zu öffentlichen Informationen teilt sich Österreich den letzten – tatsächlich den allerletzten! – Platz mit der Republik Palau, einem pazifischen Inselstaat mit rund 19.000 Einwohner:innen, der bis 1994 unter US-amerikanischer Verwaltung stand. Wir befinden uns in der Gesellschaft von Weißrussland und Tadschikistan, und selbst die notorisch intransparenten Steueroasen Liechtenstein und Monaco schneiden bei diesem Ranking, das nicht weniger als 61 Indikatoren in sieben Kategorien zusammenfasst, besser ab. Da ist es nicht einmal ein schwacher Trost, dass auch Deutschland unter den zehn letztplatzierten Ländern dieses Rankings aufscheint.[1]


Kann nicht sein, denken Sie? Unmöglich, wollen Sie ausrufen? Das ging mir auch so. Doch tatsächlich gibt kein anderer EU-Mitgliedstaat seinen Bürger:innen so wenige Möglichkeiten zum Einblick in amtliche Dokumente wie Österreich. Nirgendwo sonst in Europa genießen Amtsgeheimnis und Amtsverschwiegenheit verfassungsrechtliche Absicherung.


Das ist nicht nur ein gesetzliches, das ist ein kulturelles Problem. In einem Klima, das ohnehin schon von fehlendem Vertrauen gegenüber staatlichen Autoritäten geprägt ist, führen Intransparenz und Zögerlichkeit bei der Bereitstellung von Informationen zu Abneigung, Abwendung, Zynismus und zu der Auffassung, dass die Demokratie ausgehöhlt werde und der Zugang zu Informationen ein Privileg einiger weniger Profiteur:innen und kein bürgerliches Grundrecht sei. Und aus dieser distanzierten Position verstärkt sich das Misstrauen gegenüber den demokratischen Institutionen, was wiederum für mehr Distanz und dies wiederum für mehr Misstrauen sorgt. Die klassische Konstruktion einer Abwärtsspirale.


Von den Auswüchsen dieser Kultur lesen wir täglich in den Medien. Wir erleben eine geradezu unglaubliche Häufung an Korruptionsfällen: Nationalratspräsidenten führen Interventionslisten, weil sie sonst den Überblick verlieren würden, welcher Günstling nun mit welchem Posten versorgt werden soll. Spitzenpolitiker kaufen sich Berichterstattung in Tageszeitungen, indem sie dort Inserate schalten und gefälschte Umfragen veröffentlichen lassen. Parteien überschreiten sorglos die gesetzlichen Rahmen der Wahlkampfkosten, weil die Sanktionen im Vergleich zu den zu erwartenden zusätzlichen Einnahmen lächerlich sind. Dieselben Parteien können sich diese Wahlkampf-Materialschlachten nur leisten, weil sie Spenden erhalten, die zu einem großen Teil nicht als solche deklariert werden. Dafür sorgen überteuerte Anzeigen, die spendierfreudige Unternehmen in parteinahen Zeitschriften abdrucken lassen. Die parlamentarischen Untersuchungsausschüsse wissen schon gar nicht mehr, mit welcher der vielen Materien sie sich zuerst beschäftigen sollen, und werden von den Verwaltungen häufig in ihrer Arbeit behindert, indem entweder zu wenige, zu viele oder überwiegend geschwärzte Unterlagen geliefert werden.


Wen wundert es angesichts dieser innenpolitischen Melasse, dass das Vertrauen der Bevölkerung in die politischen Entscheidungsträger:innen dieses Landes auf einen noch nie dagewesenen Tiefstand gesunken ist!?


Badagnani – Eigenes Werk, CC BY 3.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=4129522


Ein Informationsfreiheitsgesetz steht ja nicht erst seit gestern auf der Agenda der Grünen, sondern ist seit vielen Jahren fester Bestandteil jedes Grünen Wahlprogramms. Das Koalitionsübereinkommen sieht ab Seite 18 Maßnahmen zur Informationsfreiheit vor, darunter die Abschaffung des Amtsgeheimnisses und der Amtsverschwiegenheit, die Pflicht zur aktiven Informationsveröffentlichung, das Recht auf den gebührenfreien Zugang zu Informationen oder das einklagbare Recht auf Informationsfreiheit. Die Regierungsparteien haben vor knapp einem Jahr, am 22. Februar 2021, einen Ministerialentwurf präsentiert, der auf diese und einige andere Punkte Rücksicht nimmt und zu dem nicht weniger als 189 Stellungnahmen eingelangt sind. Am 19. April 2021 endete die Frist für Stellungnahmen, seither ist zumindest auf der Ebene des Gesetzwerdungsprozesses nichts passiert. Die zuständige Verfassungsministerin Karoline Edtstadler hinterlässt einen resignierten Eindruck, wenn sie im Ö1-Journal um 8 am 15. Februar ausrichten lässt, die Überarbeitung des Ministerialentwurfs „mache keinen Sinn, weil zwar alle die Informationsfreiheit befürworten würden, nur nicht im eigenen Bereich“.


Besonders Länder und Gemeinden stehen in Sachen Informationsfreiheit mit allen Gliedmaßen auf der Bremse, kommt mir vor. Warum, bleibt rätselhaft: Denn alle demokratischen Kontrollinstrumente bleiben stumpf, wenn sie nicht vom Recht auf Akteneinsicht, von der Pflicht zur Offenlegung von Verträgen und Auftragsvergaben begleitet werden. Ich unterstelle gar nicht, dass in solchen sumpfigen Biotopen die Korruption blüht, aber dass der entsprechende Anfangsverdacht entsteht, erscheint mir nachvollziehbar. Einige Beispiele:

+ Die Protokolle der Grundverkehrskommissionen sind nicht öffentlich. Es bleibt geheim, wer welche Grundstücke zu welchem Preis kauft und wer wie viel Bauland hortet.

+ Unzählige von der öffentlichen Hand beauftragte Gutachten sowie Stellungnahmen und Verträge bleiben in verschlossenen Schubladen liegen.

+ Österreich besitzt kein generelles Akteneinsichtsrecht und kein wirkungsvolles Lobbying-Register.

+ Trotz der österreichischen Transparenzdatenbank bleibt das Förderwesen im Lande undurchsichtig und unübersichtlich.

+ Die Reihungslisten für Bewerber:innen auf Ämter in der Verwaltung oder in Unternehmen, die der Rechnungshofkontrolle unterliegen, bleiben geheim.


In Schweden haben es Korruption und Mauschelei ungleich schwerer als in Österreich, und zwar nicht deshalb, weil dort die moralisch gefestigteren Menschen leben, sondern weil sich dort, gestützt durch eine Reihe höchstgerichtlicher Urteile, über Jahrzehnte hinweg eine Kultur der Transparenz etabliert hat. Hierzulande gilt: Geheimhaltung ist die Regel, Offenlegung die Ausnahme. Dieses Prinzip müssen wir auf den Kopf stellen, wenn wir uns als Demokratie ernst nehmen.

Zugleich muss uns klar sein, dass wir das geschwundene Vertrauen nicht mit Bemühungen um Transparenz zurückgewinnen können. Vertrauen und Transparenz sind, wie der deutsch-koreanische Philosoph Byung-Chul Han vor nicht allzu langer Zeit beobachtet hat, Gegensatzpaare. Transparenz ist dort nötig, wo kein Vertrauen existiert, aber sie befestigt das Misstrauen. Denn würde ich vertrauen, brauchte es keine Transparenz. Ich behaupte, Vertrauen ist die volatilste Währung, die der Mensch kennt. Unglaublich schwer anzuhäufen und extrem leicht zu verlieren. Der Wiederaufbau von Vertrauen führt aber nicht über die Transparenz, so wichtig Informationsfreiheits- und Transparenzgesetze sein mögen. Vertrauen lässt sich, davon bin ich überzeugt, nur dann wiederherstellen, wenn Ankündigung und Tat, wenn Intention und Umsetzung in einem kongruenten Verhältnis stehen – wenn also wir Politikerinnen und Politiker Handlungen setzen, die unseren Haltungen und Absichten entsprechen, und das über einen längeren Zeitraum hinweg. Das klingt banal, ist aber gerade in unsicheren Zeiten mit wechselnden Mehrheiten unendlich schwierig, aber nichtsdestoweniger notwendig.


Wenigstens lässt sich auf der Ebene der Parteienförderung und Parteienfinanzierung Bewegung beobachten. Die Klubobleute von Vorarlberger ÖVP und Vorarlberger Grünen, Roland Frühstück und Daniel Zadra, sorgten Ende letzter Woche für österreichweites Aufsehen, weil sie eine grundlegende Neuregelung der Parteienförderung in Vorarlberg präsentierten, die darauf hinausläuft, dass alle Inserate, Spenden und Subventionen künftig lückenlos veröffentlicht und dass die Wahlkämpfe kürzer und billiger werden müssen. Die Details dieses Vorschlags werden in den nächsten Tagen mit der Opposition finalisiert. Möge dieses Paket Vorbildwirkung entfachen und Wind in die Segel der Verhandlungen auf Bundesebene blasen!


[1] Wobei mir klar ist, dass Listen dieser Art stets ein Unsicherheitsfaktor anhaftet, was ihre Methodik betrifft, und daher lediglich cum grano salis zu genießen sind.

  • wolfgangpendl

Nebenvereinbarung: „Wie böse ist das denn!?“ – Keine Nebenvereinbarung: „Wie naiv kann man denn sein, bitte!?“


Ich muss einiges klarstellen.

Also: Die wesentlichen Teile eines Regierungsübereinkommens werden zwischen zwei (oder mehr) Koalitionspartnern in einem intensiven Prozess ausverhandelt, festgelegt und verschriftlicht. Darin enthalten sind die programmatisch-politischen Schwerpunkte, auf die zu einigen man sich durchgerungen hat.

Nicht enthalten ist in einem solchen Programm die Feinabstimmung des Räderwerkes, angefangen von der Besetzung von Aufsichtsräten, bis zu Bestellungen, die die Regierung vorzunehmen hat, von der EU-Kommissar:in über Richter:innen an den Höchstgerichten bis hin zu Führungsrollen der Verwaltung.

Nicht enthalten ist in einem solchen Programm, wie die Koalitionsparteien mit allfälligen unterschiedlichen Positionen und Konflikten umzugehen gedenken.

Doch die Regelung solcher Fragen – nennen wir sie „Machtfragen“ – ist für das Funktionieren einer Koalition entscheidend, insbesondere dann, wenn die Partner ungleich groß sind. Werden diese Fragen nicht vorab geklärt, könnte der größere Partner aufgrund seines höheren Gewichts jedes Detail, von dem im Koalitionsvertrag nicht die Rede ist, im Alleingang bestimmen. Damit würde sich aber jegliche Zusammenarbeit ad absurdum führen: daher “Sideletters”.

Außerhalb der Politik nennen sich diese “Sideletters” übrigens Nebenabsprachen und sind dermaßen normal und üblich, dass niemand je davon spricht, geschweige denn sie zu einem Skandal hochstilisiert. Wer behauptet, in Verhandlungen gehe es immer nur um Sach-, nie um Personalfragen, leidet unter mangelnder politischer Erfahrung. Und nein, diese Nebenvereinbarungen müssen nicht veröffentlicht werden. Denn sie sollen Vertrauen dort bilden, wo das Eis dünn ist. Vertrauen in heiklen Bereichen entsteht durch Vertraulichkeit. Das sind die zurzeit ungeschriebenen Gesetze von Macht und Politik, ob man sie mag oder nicht. Abhilfe könnte das von den Grünen seit langer Zeit geforderte Informationsfreiheitsgesetz schaffen, das die Abschaffung des Amtsgeheimnisses ebenso inkludiert wie ein umfassendes Transparenz- und Parteiengesetz. Daran arbeiten wir, seit diese Koalition ihre Arbeit aufgenommen hat (siehe das Regierungsprogramm der Regierung, S. 17–19; die entsprechenden Entwürfe stehen gerade in intensiver Verhandlung); doch ein solches Gesetzespaket ist ein Ergebnis, nicht die Vorausbedingung der Regierungsarbeit.


Die scheinbaren „Kuhhändel“


Erstens: Eva Schindlauer wurde ORF-Finanzdirektorin, zuvor war sie Geschäftsführerin des Senders ORF III. Stefanie Groiss-Horowitz, vormals Senderchefin von Puls4, übernahm den Posten der ORF-Programmdirektorin. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie nahe die beiden Frauen den Grünen stehen, an ihren Kompetenzen und ihren Fähigkeiten, den ORF weiterzuentwickeln, hege ich keinerlei Zweifel. Diese beiden Bestellungen sind wohl nicht zufällig erfolgt, und ich zweifle stark daran, dass die beiden Managerinnen unter einer anderen Regierungskonstellation zum Zug gekommen wären. Zur Frage vom Frauenanteil in Führungspositionen im ORF hat auch Lothar Lockl vor nicht allzu langer Zeit einiges gesagt.


Zweitens: Ich betrachte es als Verhandlungserfolg, dass den Grünen nun das Vorschlagsrecht bei der Wahl des ORF-Stiftungsratsvorsitzenden zusteht. Wer nun aufjault und von „Postenschacher“ spricht, hat sich das Prozedere um die Bestellung dieser Position offenkundig (noch) nicht genau angesehen. Der oder die Stiftungsratsvorsitzende wird von den Mitgliedern des ORF-Stiftungsrats gewählt. In diesem Gremium hält die ÖVP eine satte absolute Mehrheit; ohne eine Vereinbarung auf Koalitionsebene hätte die ÖVP also ganz einfach eine Kandidatin oder einen Kandidaten ihrer Wahl durchsetzen können. Sauber? Geht so. Sollte der ORF dem Einfluss der Parteipolitik entzogen werden? Selbstverständlich. Dafür kämpfen die Grünen seit Jahrzehnten. Doch dafür gibt es derzeit keine parlamentarische Mehrheit. Was die FPÖ gemeinsam mit der ÖVP hier schon ganz konkret festgeschrieben hat – man denke nur an die paktierte Abschaffung der GIS-Gebühren –, sollte auch feinsinnigeren Gemütern zu denken geben.


Drittens: Die Besetzung von Stellen an den obersten Gerichtshöfen ist eine politisch überaus heikle Angelegenheit, weil hier selbstverständlich entscheidende Weichen in der Rechtsprechung mit einer Perspektive von Jahrzehnten gestellt werden. Die Abtreibungsdebatten, die in den USA nach der Bestellung von Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett an den Supreme Court mit unglaublicher Heftigkeit aufgeflammt sind, zeigen uns, welches Gewicht Verfassungsrichter:innen im politischen Prozess haben.

In Österreich werden die Mitglieder und Ersatzmitglieder vom Bundespräsidenten ernannt. Für die Position des Präsidenten und der Vizepräsidentin hat die Bundesregierung das Vorschlagsrecht, sie nominiert außerdem sechs Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter sowie drei Ersatzmitglieder. Die weiteren Mitglieder und Ersatzmitglieder schlagen Nationalrat und Bundesrat vor.

Ich denke, es ist nachvollziehbar, dass die Grünen, wenn sie denn schon Einfluss auf entsprechende Entscheidungen nehmen können, niemals eine Klimawandelleugnerin oder einen Abtreibungsgegner für die Berufung an den Verfassungsgerichtshof vorschlagen würden.


Viertens: Klimaschutzministerin Leonore Gewessler hat den Bau des Lobautunnels gestoppt. Glaubt wirklich irgendjemand, die ÖVP hätte dem Ende für den Lobautunnel zugestimmt? Eben. Justizministerin Alma Zadić hat Sektionschef Christian Pilnacek suspendiert. Glaubt wirklich irgendjemand, die ÖVP hätte der Absetzung ihres mächtigsten Verbündeten im Justizministerium zugestimmt? Eben. Doch in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich agieren die Ministerien unabhängig und ohne dass der Koalitionspartner direkt darauf Einfluss nehmen könnte. Daher hat eben auch die ÖVP festhalten lassen, dass das Bildungsministerium ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen dekretieren könnte. Es ist im Übrigen Harald Walser und einigen anderen Verhandler:innen zu verdanken, dass dieses Ansinnen nicht Teil des Koalitionsübereinkommens wurde – weil die Grünen einem solchen Vorgehen niemals zustimmen würden. Ganz abgesehen davon wissen auch die Jurist:innen in den Reihen der ÖVP, dass ein solcher Erlass vom Verfassungsgerichtshof aufgrund von Rechtswidrigkeit mit großer Sicherheit aufgehoben würde. Es ist daher völlig widersinnig, den Kopftuchverbot-Erlass und die Wahl des ORF-Stiftungsratsvorsitzenden in einen „Quid pro quo“-Konnex bringen zu wollen. Die beiden Angelegenheiten stehen weder in sachlichem noch strukturellem Zusammenhang, und ein Erlass über das Kopftuchverbot wäre, wie angeführt, völlig substanzlos. Auf so einen miserablen Deal würde sich die ÖVP, so viel kann ich aus eigener Erfahrung sagen, niemals einlassen.


Fünftens: Zur Bestellungspraxis ein paar Beispiele aus dem Klimaschutzministerium. Kurt Weinberger, Vorstandsvorsitzender der Hagelversicherung, wurde als ÖBB-Aufsichtsrat verlängert. Brigitte Ederer, langjähriges Vorstandsmitglied der Siemens AG, wurde neu in den ÖBB-Aufsichtsrat berufen. Grüne Parteisoldat:innen? Wohl kaum, sondern vielmehr Besetzungen, bei denen Ministerin Leonore Gewessler ausschließlich die Kompetenz der betroffenen Personen ins Zentrum stellte. Siegfried Stieglitz (Asfinag) und Kathrin Glock (Austro Control) gehören den jeweiligen Aufsichtsräten hingegen nicht länger an. Die Gründe hierfür lassen sich nachlesen und haben jedenfalls nichts mit fehlender grüner Parteizugehörigkeit zu tun.


Sechstens: Was emphatisch „Hacklerregelgung“ genannt wird, war eine sozialpolitische Maßnahme, die die abschlagsfreie Pensionierung mit 62 Jahren garantieren sollte, wenn die betroffene Person 45 Jahre gearbeitet hatte. Dieses Modell kam, wie wir seit einiger Zeit wissen, praktisch ausschließlich Männern zugute, und „Hackler“ im Sinne von Menschen, die körperliche Schwerstarbeit verrichten, waren kaum darunter. Die aktuelle Bundesregierung hat anstelle der „Hacklerregelung“ nun den sogenannten „Frühstarterbonus“ eingeführt, der Frauen in verstärktem Ausmaß zugutekommen soll und den etwa Wifo-Ökonomin Christine Mayrhuber als „zielgerichtetes Mittel gegen Altersarmut“ betrachtet. Die ÖVP wollte den Ersatz der „Hacklerregelung“ durch den „Frühstarterbonus“ aus taktischen Erwägungen nicht ins Koalitionsübereinkommen aufnehmen, um absehbare Angriffe der SPÖ zu vermeiden, und die Grünen haben dieser Vorgehensweise zugestimmt, zumal es inhaltlich keine Divergenzen gab. Sauber? Naja. Doch Taktik gehört nun einmal zum politischen Geschäft, und wer diese Prämisse glaubt ignorieren zu können, wird in der politischen Praxis rasch eines Besseren belehrt. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.

Und nur nebenbei: Diejenigen, die nun aufgrund der Nebenvereinbarungen vor Empörung platzen, sind nicht selten dieselben Personen, die früher die Ansicht vertreten haben, die Grünen ließen sich von der ÖVP unablässig über den Tisch ziehen und seien der türkisen Machtmaschine nicht gewachsen.


Die Augenfälligkeit des Zeitpunkts


Es ist natürlich kein Zufall, dass diese Zusatzvereinbarungen ausgerechnet jetzt verbreitet werden, kurz vor dem Beginn des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der sich vor allem mit dem Verdacht der Korruption in der ÖVP beschäftigen wird. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber beständig. Nichts fürchtet der junge Altkanzler Sebastian Kurz so sehr wie das Szenario, neuerlich vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss erscheinen und unter Wahrheitspflicht aussagen zu müssen – zum Stil und zum Inhalt zahlloser Chats, zur dubiosen Finanzierung seiner Wahlkämpfe, zu bestellten Meinungsumfragen und gekaufter Berichterstattung im Boulevard und vielem mehr.

Kurz’ einziger Ausweg aus der Suppe, die er sich selbst eingebrockt hat: Neuwahlen. Denn damit wäre der U-Ausschuss fürs Erste obsolet und müsste neu konstituiert werden, sobald ein neuer Nationalrat angelobt wäre. Daher folgt die Bubentruppe um Kurz der Devise des langjährigen Donald-Trump-Chefberaters Steve Bannon: “Flood the zone with shit!”


Was wir hier also erleben, ist der Versuch des Ex-Kanzlers und seiner Vertrauten, Rache am ehemaligen Koalitionspartner zu üben, Dreck in alle Richtungen zu werfen, möglichst viel medialen Schaum zu schlagen und den Eindruck hervorzurufen, es seien ohnehin alle Parteien gleich und das politische System des Landes sei an der Wurzel verdorben. So weit, so durchschaubar. Ob der beleidigten Kurz-Kamarilla dieses Manöver gelingt, hängt nicht zuletzt von der Fähigkeit der öffentlich-rechtlichen und privaten Medien zum selbständigen Analysieren, zur differenzierten Berichterstattung ab. Heucheleien helfen uns nicht weiter.

„Gesundheit ist ein Zustand des vollständigen körperlichen, geistigen und sozialen Wohlergehens und nicht nur das Fehlen von Krankheit oder Gebrechen.“

(Gesundheitsdefinition der WHO)


„Das Virus ist eine demokratische Zumutung.“

(Angela Merkel)


Haben die Expertinnen und Experten recht,[1] bestehen ganz gute Aussichten, dass die Corona-Pandemie demnächst „endemisch“[2] wird und damit ihren Schrecken verliert. Die Impfung hat sehr viel dazu beigetragen, schwere Verläufe mit langen Spitalsaufenthalten oder gar intensivmedizinscher Behandlung drastisch zu reduzieren.


Aber machen wir uns nichts vor: Die Maßnahmen, mit denen wir die Pandemie bekämpft haben, sind eine unvergleichliche Zumutung an unser demokratisches Selbstverständnis: Masken im öffentlichen Raum, Abstandsregeln, Kontakt- und Zutrittsbeschränkungen, mehrere Lockdowns, in denen das soziale und wirtschaftliche Leben des Landes praktisch zum Erliegen kam, und schließlich die Impfpflicht. Diese Eingriffe in unsere Lebensgewohnheiten, in unser Verständnis von Freiheit und Selbstbestimmtheit wären noch vor drei Jahren unvorstellbar gewesen. Angesichts der Bedrohung durch das Virus waren sie bedauerlicherweise notwendig. Zugleich hat die Regierung mit unerhörten budgetären Kraftakten in Höhe von rund 40 Milliarden Euro die direkten Pandemiekosten und die ökonomischen Folgeschäden der Krise abgefedert, so gut es eben ging.


Langzeitfolgen


Doch zwei Jahre der Pandemie haben Spuren hinterlassen. Wir erleben Menschen, die an Long Covid erkrankt sind und sich nur sehr langsam erholen. Wir erleben eine erschreckende Zunahme an psychischen Erkrankungen, insbesondere bei Kindern und Jugendlichen. Alte und alleinstehende Menschen sind – hoffentlich nur vorübergehend – vereinsamt, Alleinerziehende in einen Zustand struktureller Überforderung geraten, dasselbe gilt beispielsweise für Beschäftigte im Pflege- und Gesundheitswesen. Wir erleben die Verschärfung sozialer Ungleichheiten und eine allgemeine Grundstimmung der Verunsicherung, der Ungeduld, der Ohnmacht, des permanenten Impulses, der Welt ein „Es reicht!“ zuzurufen.

Gerade Kinder und Jugendliche, deren Leben gefühlt schneller verläuft, haben zwei Jahre hinter sich, die sie nicht mehr aufholen können, selbst wenn ab jetzt alles wieder „normal“ würde. Mein dreijähriger Enkel hat zwei Drittel seines bisherigen Lebens unter den Bedingungen der Pandemie verbracht, meine letzten Herbst geborene Enkelin kennt erwachsene Menschen, die nicht dem engsten Familienkreis angehören, nur als Maskenträger:innen.


Nicht erst die letzte Woche im Parlament beschlossene Einführung der Impfpflicht hat zu dramatischen sozialen Verwerfungen geführt. Ich denke, es ist falsch, von einer „Spaltung“ der Gesellschaft zu sprechen, da dieses Bild zwei etwa gleich große Hälften suggeriert, aber es ist nicht zu bestreiten, dass die Corona-Krise Risse verursacht hat. Es gehen Brüche durch Unternehmen, Familien, Beziehungen, Vereine. Freundschaften sind zerbrochen. Die Fronten scheinen verhärtet, unauflöslich, die Standpunkte unversöhnlich. Meinungsverschiedenheiten steigern sich zu erbitterter Gegnerschaft, manchmal zu blankem Hass. Unter solchen Voraussetzungen verschwinden die Bereitschaft und die Möglichkeit, die Welt des jeweils anderen zu verstehen.


Die Immunisierung gegen das Coronavirus schreitet voran, die Immunisierung gegen radikale, staatsfeindliche und offen rechtsradikale Strömungen nimmt ab. Um den Gesundheitszustand unserer Demokratie ist es schlecht bestellt. Die einen unterstellen den anderen, paranoide „Covidioten“ zu sein, die anderen richten den einen aus, sie seien „Faschisten“.


Diese Auseinandersetzungen werden, so viel scheint klar, Langzeitfolgen nach sich ziehen. Die Verletzungen, die wir einander beigebracht haben, werden nicht automatisch verschwinden. Die Zeit wird nicht alle Wunden heilen. Es wird nicht einfach Gras über die traumatischen Erlebnisse der letzten beiden Jahre wachsen.


Wer aber kümmert sich um die Behandlung dieser Traumata, dieser physischen und psychischen Beschädigungen? Wie können Heilung oder wenigstens Versöhnung gelingen? Ich finde, darüber müssen wir reden.


Und auch wenn der großen Mehrheit der Bevölkerung die Sturheit, die Uneinsichtigkeit, die Verbohrtheit, das Misstrauen der kleinen, aber lautstarken Minderheit auf die Nerven gehen: Es ist die Aufgabe der Mehrheit – und damit meine ich zuallererst die Mehrheit im Parlament und die Bundesregierung –, erste Schritte auf die Minderheit zuzugehen, schon allein deswegen, weil sie die Verantwortung für die gesamte Gesellschaft trägt. Doch schließlich kommt es auf uns alle an. Wir müssen neu lernen, aufeinander zuzugehen, zuzuhören, den Disput zu pflegen, Argumente von Emotionen zu unterscheiden.


Und nun?


Wir brauchen dringend ein Ventil, durch das die aufgeheizte Luft aus dem Druckkochtopf, in den die Gesellschaft sich zu verwandeln droht, entweichen kann. Die Einführung der Impfpflicht hat die Temperatur insbesondere auf der Seite der ungeimpften Minderheit aller ideologischen Schattierungen noch einmal bedeutend erhöht.

Nach dem Ende des „Lockdowns für Ungeimpfte“ brauchen wir weitere Ventile, durch die der Druck entweichen kann.[3] Auch wenn die Maßnahme nicht als Strafsanktion konzipiert war (sondern die Überlastung des Gesundheitssystems verhindern sollte), steht er mit der Impfpflicht in einem widersprüchlichen Verhältnis. Es ist unter den aktuellen gesetzlichen und pandemischen Bedingungen nicht länger vertretbar, bestimmte Menschen von weiten Bereichen des öffentlichen Lebens fernzuhalten. Der Besuch von Restaurants und Geschäften jenseits der Apotheken und Supermärkte, das Treffen von Menschen, das Pflegen sozialer Kontakte soll für alle gleichermaßen gegeben sein. Die Frage, ob die Beendigung des „Lockdowns für Ungeimpfte“ auch die Teilnahme an Großveranstaltungen ermöglichen soll, ist heikel; vermutlich wäre eine Maximalgröße zu definieren. Ebenso wenig ist es einfach, den richtigen Zeitpunkt für die Aufhebung dieser Maßnahmen zu finden. Dieser sollte zumindest mit jenen Parlamentsparteien koordiniert werden, die der Einführung der Impfpflicht zugestimmt haben.


Als nächster Schritt sollten die in den diversen Covid-Maßnahmengesetzen verankerten Sonderbestimmungen für Legislative und Exekutive außer Kraft treten. Regierungen und Parlamente (Nationalrat, Landtage, Gemeinderäte) kehren in den verfassungsrechtlichen Normalbetrieb zurück.


Gleichzeitig müssen Verfassungsschutz, Polizei und Justiz kompromisslos gegen jene Gruppen vorgehen, die im Windschatten der Pandemie und im Rahmen von Demonstrationen offen rechtsextreme und staatsfeindliche Aktionen setzen. Die Bedrohung von Ärzt:innen, Pfleger:innen, Lehrer:innen oder Politiker:innen muss mit allen Mitteln des Rechtsstaates bekämpft werden.


Und dann: Aufarbeitung


Es liegt an der Regierung, den institutionellen Rahmen zu schaffen, in dem wir alle die gesellschaftlichen Folgen der Pandemie aufarbeiten können. Symposien, politische Debatten, sozialwissenschaftliche Forschungsprojekte und parlamentarische Gremien sind hierfür nicht genug. Wir müssen uns vor allem Formate überlegen, denen sich auch jene Menschen annähern können, die in den letzten beiden Jahren auf maximale Distanz gegangen sind.

Das wird ein langer und mühsamer Prozess, von dem überhaupt nicht klar ist, ob er zum Erfolg führen wird. Doch beginnen wir ihn nicht, laufen wir Gefahr, einen bedeutenden Teil der Bevölkerung dauerhaft für alles zu verlieren, was sich mit den Begriffen Demokratie, Teilhabe, Solidarität und Gemeinsinn unscharf umschreiben lässt.


Selten war Politik schwieriger als während – und nach – Corona.


PS: Ich habe zu dem Thema das eine oder andere Interview gegeben, nachzulesen in der Presse, in den Salzburger Nachrichten und im Kurier. [1] Vgl. z. B. https://unchartedterritories.tomaspueyo.com/p/covid-end-game (25.01.2022), https://www.morgenpost.de/vermischtes/article234395811/corona-who-endphase-pandemie-omikron-drosten-impfpflicht.html (25.01.2022), https://de.euronews.com/2022/01/24/who-halt-ende-der-pandemie-in-europa-nach-omikron-welle-fur-plausibel (25.01.2022). [2] „Endemisch“ bedeutet, dass das Virus bei uns – ähnlich wie die Grippe oder FSME – heimisch wird, aber keine großen Schwankungen mehr auslöst. Die Krankheit wird berechenbar.

[3] Wiens Gesundheitsstadtrat Peter Hacker hat völlig recht mit der Einschätzung, dass das eine überaus unglückliche Wortwahl war.

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