Nebenvereinbarung: „Wie böse ist das denn!?“ – Keine Nebenvereinbarung: „Wie naiv kann man denn sein, bitte!?“
Ich muss einiges klarstellen.
Also: Die wesentlichen Teile eines Regierungsübereinkommens werden zwischen zwei (oder mehr) Koalitionspartnern in einem intensiven Prozess ausverhandelt, festgelegt und verschriftlicht. Darin enthalten sind die programmatisch-politischen Schwerpunkte, auf die zu einigen man sich durchgerungen hat.
Nicht enthalten ist in einem solchen Programm die Feinabstimmung des Räderwerkes, angefangen von der Besetzung von Aufsichtsräten, bis zu Bestellungen, die die Regierung vorzunehmen hat, von der EU-Kommissar:in über Richter:innen an den Höchstgerichten bis hin zu Führungsrollen der Verwaltung.
Nicht enthalten ist in einem solchen Programm, wie die Koalitionsparteien mit allfälligen unterschiedlichen Positionen und Konflikten umzugehen gedenken.
Doch die Regelung solcher Fragen – nennen wir sie „Machtfragen“ – ist für das Funktionieren einer Koalition entscheidend, insbesondere dann, wenn die Partner ungleich groß sind. Werden diese Fragen nicht vorab geklärt, könnte der größere Partner aufgrund seines höheren Gewichts jedes Detail, von dem im Koalitionsvertrag nicht die Rede ist, im Alleingang bestimmen. Damit würde sich aber jegliche Zusammenarbeit ad absurdum führen: daher “Sideletters”.
Außerhalb der Politik nennen sich diese “Sideletters” übrigens Nebenabsprachen und sind dermaßen normal und üblich, dass niemand je davon spricht, geschweige denn sie zu einem Skandal hochstilisiert. Wer behauptet, in Verhandlungen gehe es immer nur um Sach-, nie um Personalfragen, leidet unter mangelnder politischer Erfahrung. Und nein, diese Nebenvereinbarungen müssen nicht veröffentlicht werden. Denn sie sollen Vertrauen dort bilden, wo das Eis dünn ist. Vertrauen in heiklen Bereichen entsteht durch Vertraulichkeit. Das sind die zurzeit ungeschriebenen Gesetze von Macht und Politik, ob man sie mag oder nicht. Abhilfe könnte das von den Grünen seit langer Zeit geforderte Informationsfreiheitsgesetz schaffen, das die Abschaffung des Amtsgeheimnisses ebenso inkludiert wie ein umfassendes Transparenz- und Parteiengesetz. Daran arbeiten wir, seit diese Koalition ihre Arbeit aufgenommen hat (siehe das Regierungsprogramm der Regierung, S. 17–19; die entsprechenden Entwürfe stehen gerade in intensiver Verhandlung); doch ein solches Gesetzespaket ist ein Ergebnis, nicht die Vorausbedingung der Regierungsarbeit.
Die scheinbaren „Kuhhändel“
Erstens: Eva Schindlauer wurde ORF-Finanzdirektorin, zuvor war sie Geschäftsführerin des Senders ORF III. Stefanie Groiss-Horowitz, vormals Senderchefin von Puls4, übernahm den Posten der ORF-Programmdirektorin. Ich weiß ehrlich gesagt nicht, wie nahe die beiden Frauen den Grünen stehen, an ihren Kompetenzen und ihren Fähigkeiten, den ORF weiterzuentwickeln, hege ich keinerlei Zweifel. Diese beiden Bestellungen sind wohl nicht zufällig erfolgt, und ich zweifle stark daran, dass die beiden Managerinnen unter einer anderen Regierungskonstellation zum Zug gekommen wären. Zur Frage vom Frauenanteil in Führungspositionen im ORF hat auch Lothar Lockl vor nicht allzu langer Zeit einiges gesagt.
Zweitens: Ich betrachte es als Verhandlungserfolg, dass den Grünen nun das Vorschlagsrecht bei der Wahl des ORF-Stiftungsratsvorsitzenden zusteht. Wer nun aufjault und von „Postenschacher“ spricht, hat sich das Prozedere um die Bestellung dieser Position offenkundig (noch) nicht genau angesehen. Der oder die Stiftungsratsvorsitzende wird von den Mitgliedern des ORF-Stiftungsrats gewählt. In diesem Gremium hält die ÖVP eine satte absolute Mehrheit; ohne eine Vereinbarung auf Koalitionsebene hätte die ÖVP also ganz einfach eine Kandidatin oder einen Kandidaten ihrer Wahl durchsetzen können. Sauber? Geht so. Sollte der ORF dem Einfluss der Parteipolitik entzogen werden? Selbstverständlich. Dafür kämpfen die Grünen seit Jahrzehnten. Doch dafür gibt es derzeit keine parlamentarische Mehrheit. Was die FPÖ gemeinsam mit der ÖVP hier schon ganz konkret festgeschrieben hat – man denke nur an die paktierte Abschaffung der GIS-Gebühren –, sollte auch feinsinnigeren Gemütern zu denken geben.
Drittens: Die Besetzung von Stellen an den obersten Gerichtshöfen ist eine politisch überaus heikle Angelegenheit, weil hier selbstverständlich entscheidende Weichen in der Rechtsprechung mit einer Perspektive von Jahrzehnten gestellt werden. Die Abtreibungsdebatten, die in den USA nach der Bestellung von Brett Kavanaugh und Amy Coney Barrett an den Supreme Court mit unglaublicher Heftigkeit aufgeflammt sind, zeigen uns, welches Gewicht Verfassungsrichter:innen im politischen Prozess haben.
In Österreich werden die Mitglieder und Ersatzmitglieder vom Bundespräsidenten ernannt. Für die Position des Präsidenten und der Vizepräsidentin hat die Bundesregierung das Vorschlagsrecht, sie nominiert außerdem sechs Verfassungsrichterinnen und Verfassungsrichter sowie drei Ersatzmitglieder. Die weiteren Mitglieder und Ersatzmitglieder schlagen Nationalrat und Bundesrat vor.
Ich denke, es ist nachvollziehbar, dass die Grünen, wenn sie denn schon Einfluss auf entsprechende Entscheidungen nehmen können, niemals eine Klimawandelleugnerin oder einen Abtreibungsgegner für die Berufung an den Verfassungsgerichtshof vorschlagen würden.
Viertens: Klimaschutzministerin Leonore Gewessler hat den Bau des Lobautunnels gestoppt. Glaubt wirklich irgendjemand, die ÖVP hätte dem Ende für den Lobautunnel zugestimmt? Eben. Justizministerin Alma Zadić hat Sektionschef Christian Pilnacek suspendiert. Glaubt wirklich irgendjemand, die ÖVP hätte der Absetzung ihres mächtigsten Verbündeten im Justizministerium zugestimmt? Eben. Doch in ihrem jeweiligen Wirkungsbereich agieren die Ministerien unabhängig und ohne dass der Koalitionspartner direkt darauf Einfluss nehmen könnte. Daher hat eben auch die ÖVP festhalten lassen, dass das Bildungsministerium ein Kopftuchverbot für Lehrerinnen dekretieren könnte. Es ist im Übrigen Harald Walser und einigen anderen Verhandler:innen zu verdanken, dass dieses Ansinnen nicht Teil des Koalitionsübereinkommens wurde – weil die Grünen einem solchen Vorgehen niemals zustimmen würden. Ganz abgesehen davon wissen auch die Jurist:innen in den Reihen der ÖVP, dass ein solcher Erlass vom Verfassungsgerichtshof aufgrund von Rechtswidrigkeit mit großer Sicherheit aufgehoben würde. Es ist daher völlig widersinnig, den Kopftuchverbot-Erlass und die Wahl des ORF-Stiftungsratsvorsitzenden in einen „Quid pro quo“-Konnex bringen zu wollen. Die beiden Angelegenheiten stehen weder in sachlichem noch strukturellem Zusammenhang, und ein Erlass über das Kopftuchverbot wäre, wie angeführt, völlig substanzlos. Auf so einen miserablen Deal würde sich die ÖVP, so viel kann ich aus eigener Erfahrung sagen, niemals einlassen.
Fünftens: Zur Bestellungspraxis ein paar Beispiele aus dem Klimaschutzministerium. Kurt Weinberger, Vorstandsvorsitzender der Hagelversicherung, wurde als ÖBB-Aufsichtsrat verlängert. Brigitte Ederer, langjähriges Vorstandsmitglied der Siemens AG, wurde neu in den ÖBB-Aufsichtsrat berufen. Grüne Parteisoldat:innen? Wohl kaum, sondern vielmehr Besetzungen, bei denen Ministerin Leonore Gewessler ausschließlich die Kompetenz der betroffenen Personen ins Zentrum stellte. Siegfried Stieglitz (Asfinag) und Kathrin Glock (Austro Control) gehören den jeweiligen Aufsichtsräten hingegen nicht länger an. Die Gründe hierfür lassen sich nachlesen und haben jedenfalls nichts mit fehlender grüner Parteizugehörigkeit zu tun.
Sechstens: Was emphatisch „Hacklerregelgung“ genannt wird, war eine sozialpolitische Maßnahme, die die abschlagsfreie Pensionierung mit 62 Jahren garantieren sollte, wenn die betroffene Person 45 Jahre gearbeitet hatte. Dieses Modell kam, wie wir seit einiger Zeit wissen, praktisch ausschließlich Männern zugute, und „Hackler“ im Sinne von Menschen, die körperliche Schwerstarbeit verrichten, waren kaum darunter. Die aktuelle Bundesregierung hat anstelle der „Hacklerregelung“ nun den sogenannten „Frühstarterbonus“ eingeführt, der Frauen in verstärktem Ausmaß zugutekommen soll und den etwa Wifo-Ökonomin Christine Mayrhuber als „zielgerichtetes Mittel gegen Altersarmut“ betrachtet. Die ÖVP wollte den Ersatz der „Hacklerregelung“ durch den „Frühstarterbonus“ aus taktischen Erwägungen nicht ins Koalitionsübereinkommen aufnehmen, um absehbare Angriffe der SPÖ zu vermeiden, und die Grünen haben dieser Vorgehensweise zugestimmt, zumal es inhaltlich keine Divergenzen gab. Sauber? Naja. Doch Taktik gehört nun einmal zum politischen Geschäft, und wer diese Prämisse glaubt ignorieren zu können, wird in der politischen Praxis rasch eines Besseren belehrt. Glauben Sie mir, ich weiß, wovon ich spreche.
Und nur nebenbei: Diejenigen, die nun aufgrund der Nebenvereinbarungen vor Empörung platzen, sind nicht selten dieselben Personen, die früher die Ansicht vertreten haben, die Grünen ließen sich von der ÖVP unablässig über den Tisch ziehen und seien der türkisen Machtmaschine nicht gewachsen.
Die Augenfälligkeit des Zeitpunkts
Es ist natürlich kein Zufall, dass diese Zusatzvereinbarungen ausgerechnet jetzt verbreitet werden, kurz vor dem Beginn des parlamentarischen Untersuchungsausschusses, der sich vor allem mit dem Verdacht der Korruption in der ÖVP beschäftigen wird. Die Mühlen der Justiz mahlen langsam, aber beständig. Nichts fürchtet der junge Altkanzler Sebastian Kurz so sehr wie das Szenario, neuerlich vor einem parlamentarischen Untersuchungsausschuss erscheinen und unter Wahrheitspflicht aussagen zu müssen – zum Stil und zum Inhalt zahlloser Chats, zur dubiosen Finanzierung seiner Wahlkämpfe, zu bestellten Meinungsumfragen und gekaufter Berichterstattung im Boulevard und vielem mehr.
Kurz’ einziger Ausweg aus der Suppe, die er sich selbst eingebrockt hat: Neuwahlen. Denn damit wäre der U-Ausschuss fürs Erste obsolet und müsste neu konstituiert werden, sobald ein neuer Nationalrat angelobt wäre. Daher folgt die Bubentruppe um Kurz der Devise des langjährigen Donald-Trump-Chefberaters Steve Bannon: “Flood the zone with shit!”
Was wir hier also erleben, ist der Versuch des Ex-Kanzlers und seiner Vertrauten, Rache am ehemaligen Koalitionspartner zu üben, Dreck in alle Richtungen zu werfen, möglichst viel medialen Schaum zu schlagen und den Eindruck hervorzurufen, es seien ohnehin alle Parteien gleich und das politische System des Landes sei an der Wurzel verdorben. So weit, so durchschaubar. Ob der beleidigten Kurz-Kamarilla dieses Manöver gelingt, hängt nicht zuletzt von der Fähigkeit der öffentlich-rechtlichen und privaten Medien zum selbständigen Analysieren, zur differenzierten Berichterstattung ab. Heucheleien helfen uns nicht weiter.
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