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Johannes Rauch

Gesundheitsreform geht nur gemeinsam

Samira (34) fühlt sich krank. Ihre Symptome würde sie gerne medizinisch abklären lassen. Allerdings ist ihre Hausärztin in Pension gegangen, drei Versuche, bei anderen Ärzten unterzukommen, sind gescheitert: „Tut uns leid, wir nehmen niemanden mehr.“ Bei einem Wahlarzt erhält Anna sofort einen Termin. Abklärungsgespräch, Untersuchung und Labor kosten 240 Euro, die Anna bezahlen muss. Von der Krankenkasse erhält sie 60 Euro zurück.


Georg (84) lebt alleine in seiner Wohnung im 3. Stock. Im Altbau gibt es keinen Lift. Bei einem Sturz hat er sich den Oberschenkel gebrochen und liegt im Spital. Nachdem klar ist, dass er nicht alleine in seine Wohnung zurück kann, wird ein Platz in einem Pflegeheim gesucht. Weil zehn Prozent der Pflegebetten in der Stadt aufgrund von Personalmangel geschlossen sind, wartet Georg 38 Tage auf der internen Station des Spitals auf einen Heimplatz.


Laura (23) ist Alleinerzieherin und arbeitet als Regalbetreuerin in einem Supermarkt. Natürlich ist es ausgerechnet Freitagnachmittag, als ihre Tochter Sophia (3) krank wird. Kinderarzt hat keiner mehr geöffnet, Laura fährt also in die Spitalsambulanz. Sie muss drei Stunden warten, bis die Kleine kurz untersucht wird. Dann wird sie mit einem Rezept nach Hause geschickt.


Hannah (34) arbeitet seit drei Jahren im Spital und hat diverse Abteilungen durchlaufen. Sie würde gerne eine Kassenpraxis als Allgemeinmedizinerin eröffnen. Weil sie unsicher ist, ob sie den Umstieg wirklich schafft, würde sie anfangs gerne Teilzeit weiter im Spital arbeiten. Nach unzähligen Gesprächen und Telefonaten stellt sich heraus: Mit einem Kassenvertrag geht das nicht. Auf dem Türschild steht nun: „Dr. med. Hannah X., Wahlarzt für alle Kassen, Ordination nur nach Vereinbarung“.



Österreichs Gesundheitssystem gehört zu den besten der Welt. Noch. Das wird sich ändern, wenn wir nicht rasch die richtigen Weichen stellen. Beim Finanzausgleich sitzen Bund, Länder und Gemeinden an einem Tisch und diskutieren über Geld und Aufgaben. Die gute Nachricht: Alle sind sich einig, dass wir eine Gesundheitsreform brauchen.


Der Finanzausgleich ist das komplizierteste aller Instrumente. Ausgerechnet das muss nun dafür herhalten, um das Gesundheits- und Pflegesystem in Österreich zu reformieren. Wie komplex dieses System ist, zeigt ein Blick auf die Finanzströme. Klar ist: Da wird zwangsläufig um Zuständigkeiten und Geld, um Verantwortung und Kompetenzen gestritten.





Für Grundsatzgesetzgebung ist der Bund zuständig, für Spitäler und Pflege die Länder, der niedergelassene Bereich ist in der Verantwortung der Sozialversicherung. Wer aber soll es richten? Der Minister für Gesundheit und Pflege. Er hat zwar nur 10% Zuständigkeit, aber 100% Verantwortung - jedenfalls in der öffentlichen Wahrnehmung.


Wahrnehmung und Wirklichkeit


Armin Wolf fragte mich in der ZiB2: „Sie sind Minister einer Koalitionsregierung, die hat eine Mehrheit im Parlament und die kann Gesetze machen. Also machen Sie es sich da nicht ein bisschen leicht, wenn Sie die Verantwortung immer auch an die anderen Player schieben?“


Schauen wir uns die politische Realität in Österreich also an. ÖVP und Grüne haben seit 2020 eine Koalition und – völlig richtig – gemeinsam eine Mehrheit im Parlament. (Aber keine Zwei-Drittel-Mehrheit, die es für Kompetenzverschiebungen zwischen Bund und Ländern oder für einen Eingriff in die Selbstverwaltung der Sozialversicherungen bräuchte.)


Sechs Bundesländer sind ÖVP-regiert, drei von der SPÖ. In der Sozialversicherung (Selbstverwaltung!) streiten sich Arbeitgeber:innen (Wirtschaftskammer/ÖVP) und Arbeitnehmer:innen (Arbeiterkammer/SPÖ) um Macht und Einfluss. Auch die Ärztekammer mischt sowohl im Bund als auch in den Ländern kräftig mit.


Es erschließt sich rasch: Wenn auch nicht de jure, de facto braucht es für eine Gesundheitsreform einen Konsens aller wichtigen politischen Kräfte in Österreich. Gegen den Willen der Landeshauptleute, der Wirtschaftskammer und der Arbeiterkammer wird sie nicht stattfinden.


Wo viel Geld ist, wird viel Geld verdient


Gesundheit ist ein hohes Gut. Gesamtstaatlich werden in Österreich etwa 7 Milliarden Euro pro Jahr für die Pflege älterer Menschen aufgewendet (öffentliche Ausgaben, die privaten kommen dazu). Die laufenden Ausgaben für Gesundheit betragen insgesamt 51 Milliarden Euro. Sie steigen jährlich um etwa 5%. Weil der Anteil älterer Menschen zunimmt, auch weiterhin.


Mit diesen Ausgaben für die Gesundheit belegt Österreich einen Spitzenplatz im europäischen Vergleich. Dasselbe gilt für die Anzahl der Spitalsbetten und die Zahl der Ärztinnen und Ärzte pro 100.000 Einwohner:innen. Bei der „Gerätemedizin“, zum Beispiel bei CT- oder MRT-Untersuchungen, sind wir unangefochten Europaspitze.


Sehr niedrig sind hingegen die Ausgaben für Gesundheitsförderung und Prävention. Sie liegen unter 3 Prozent der Gesamtkosten (primäre und sekundäre Prävention). Die Anzahl der gesunden Lebensjahre ist in den vergangenen Jahren sogar zurückgegangen. Dabei belegt Österreich im EU-Vergleich einen sehr niedrigen Platz, trotz der sehr hohen Ausgaben im Gesundheitssystem.


Für die Behandlung ist man in Österreich in der Regel sozialversichert – entweder selbst- oder mitversichert. Ist man ohne Einkommen, übernehmen das Arbeitsmarktservice oder die Sozialhilfe (Länder) die Beiträge. Wird man krank, hat einen Unfall, braucht eine Operation, erwartet man umgehend und wohnortnahe qualitativ beste Behandlung – ohne Auf- oder Zuzahlung.


Weil das schon lange nicht mehr so perfekt funktioniert, ist jede:r vierte Österreicher:in zusatzversichert. Österreich ist Spitzenreiter bei den privaten Zuzahlungen – den so genannten Out-of-Pocket-Payments. 40 Milliarden entfallen derzeit auf Sozialversicherung und steuerfinanzierte Leistungen, 11 Milliarden werden privat bezahlt, zum Beispiel für Zusatzversicherungen und Zuzahlungen.


Wo viel Geld im Spiel ist, wird auch viel Geld verdient, aber nicht von allen und schon gar nicht von allen gleich viel. Auch das ist bei den Verhandlungen mitzudenken.





Fazit: Österreich gibt viel Geld für Pflege und Gesundheit aus, auch im internationalen Vergleich. Trotzdem ist die Personalnot groß, sind die Wartezeiten oft lang und die Frustration steigt. Drei Jahre Corona-Pandemie haben die Situation zusätzlich verschärft.


Wie soll das nun gehen mit der Reform?


Derzeit sagen die Bundesländer und auch der Städte- und Gemeindebund: „Finanzminister, wir wollen mehr Geld. Und zwar 7 Milliarden pro Jahr. Über Gesundheit und Pflege reden wir separat und zusätzlich.“ Der Finanzminister sagt: „Geld gibt es nur, wenn wir uns über die Ziele einig sind, zum Beispiel in einem Zukunftsfonds bei Kinderbetreuung und Klimaschutz. Und in Gesundheit und Pflege gibt es Geld nur, wenn sich auch strukturell etwas ändert.“


Der Deal lautet also: Geld gegen Reformen.


Mehr als zwei Milliarden Euro pro Jahr hat der Bund den Ländern und der Sozialversicherung für Gesundheit und Pflege angeboten. Das ist mehr, als es je zuvor in einem Finanzausgleich gegeben hat. Ein erheblicher Teil ist „frisches“ Geld, also zusätzliche Mittel, die vom Bund eingespeist werden. Ein anderer Teil betrifft die Verlängerung von Maßnahmen, die sonst auslaufen würden und dann ebenfalls von den Ländern zu tragen wären.


Die Eckpunkte der Gesundheitsreform


Geplant ist eine Strukturreform nach dem Grundsatz „digital vor ambulant vor stationär“, um die Qualität der Versorgung für die Patient:innen zu sichern. Statt in der Spitalsambulanz oder im Spital sollen Menschen von niedergelassenen Kassenärztinnen und -ärzten versorgt werden. Eine erste Abklärung soll zukünftig digital stattfinden – telefonisch über die Gesundheitshotline 1450, per Chat oder per App.


Auch Diagnose und Behandlung vieler chronischer Erkrankungen können über digitale Anwendungen unterstützt werden – etwa indem bei Diabetes Ernährung und Blutwerte systematisch erfasst werden oder bei Migräne Wetter, Alkoholkonsum und der Menstruationszyklus.


Seit einem halben Jahr werden die Reformvorschläge zwischen Bund und Ländern bereits verhandelt. Der Vorschlag des Bundes sieht eine Reihe von Maßnahmen vor, unter anderem:

  • Stärkung des niedergelassenen Bereichs: zusätzliche Kassenstellen vor allem in der Primärversorgung, mehr Angebot zu Randzeiten und am Wochenende, Modernisierung des Honorarkatalogs

  • Ausbau von Fachambulanzen in den Spitälern und ausgelagerter Spitalseinheiten, um eine stationäre Behandlung von Patient:innen zu vermeiden

  • Digitalisierung: Ausbau der Gesundheitshotline 1450, e-Health-Angebote wie Video-Konsultationen, verpflichtende Diagnosecodierung bei niedergelassenen Ärzt:innen, Anbindung von Wahlärzt:innen an e-Card und ELGA

  • Erweiterung des öffentlichen Impfprogramms

  • Gesundheitsförderung: zusätzliche Angebote, Weiterentwicklung des Programms „Frühe Hilfen“

  • Wirkstoffverschreibung für Medikamentenversorgung


Gesundheit und Pflege gemeinsam denken


Auch in der Pflege hat die Regierung zusätzliche Mittel angeboten, um die Versorgung sicherstellen. Geplant ist eine Aufstockung des bestehenden Pflegefonds auf mehr als 1 Milliarde Euro pro Jahr, um die Maßnahmen weiterzuführen, die mit der Pflegereform im vergangenen Jahr umgesetzt wurden.


Gesundheit und Pflege hängen eng zusammen: Mitarbeiter:innen in der Pflege entlasten Ärztinnen und Ärzte – nicht nur im Krankenhaus, sondern auch in Ordinationen und in der mobilen Pflege. Wenn genügend Pflegebetten vorhanden sind, können Menschen früher aus den Spitälern wieder zurück in ein Heim oder eine Station zur Übergangspflege.


Der Vorschlag des Bundes sieht aktuell vor:


  • Weiterführen der Gehaltserhöhungen für Mitarbeiter:innen

  • dauerhafter Ausbildungszuschuss von 600 Euro pro Monat

  • Ausbau des Community Nursing

  • 24-Stunden-Betreuung: Weiterfinanzierung der Förderung


Zusätzlich sollen die Länder weiter jene Kosten ausgeglichen erhalten, die durch die Abschaffung des Pflegeregresses entstanden sind.


Von Gemeinsamkeiten und Meinungsunterschieden, Taktik und Säbelrasseln


Am Tisch liegen nun ein Angebot des Bundes über mehr als 10 Milliarden Euro für Gesundheit und Pflege in den nächsten fünf Jahren und ein Vorschlag für die größte Gesundheitsreform der letzten Jahrzehnte. Im Grundsatz herrscht zwischen Bund, Ländern und Sozialversicherung Einigkeit. Alle wissen um die Notwendigkeit von Reformen, auch über die Richtung der Reformen herrscht Übereinstimmung.


Dass viele inhaltliche Details noch offen sind, dass bis zum Schluss um Geld, Macht und Einfluss gerungen wird, ist nicht weiter verwunderlich. Niemand konnte erwarten, dass die Landeshauptleute beim Angebot des Bundes in Jubel ausbrechen – sie wären schlechte Verhandler:innen. Und das sind sie nicht.


Säbelrasseln gehört zu solchen Verhandlungen dazu, die eine oder andere ruppige Wortmeldung auch. Ob sich am Ende die Einsicht in die Notwendigkeit von Reformen, die staatspolitische Verantwortung durchsetzt, ist offen. Bewegen müssen sich alle. Denn Gesundheitsreform geht nur gemeinsam.

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