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  • Johannes Rauch

Wissenschaft, Wahrheit, Wahrnehmung. Wo ist der Ort, an dem bestimmt wird, was ist?

Aktualisiert: 10. Dez. 2021

In der postfaktischen Informationsgesellschaft geht

das Pathos der Wahrheit ins Leere. Es verliert sich im

Rauschen der Information. Die Wahrheit zerfällt zum

Informationsstaub, der vom digitalen Wind verweht wird.

Sie wird eine kurze Episode gewesen sein.

(Byung-Chul Han)


Der Streit darum, was Wahrheit ist und damit, wie Hannah Arendt sagte, die „Festigkeit des Seins“ besitzt, wird nirgends so erbittert ausgetragen wie in den sogenannten sozialen Medien.

Wahr ist, sollte man meinen, was wissenschaftlich (mehrfach, mehrheitlich, überwiegend) belegt ist. Wenn 99 Prozent aller hochrangig begutachteten Artikel aus der Klimawissenschaft zur Erkenntnis kommen, dass Erderwärmung und Klimakrise menschengemacht sind, sollte das reichen – sollte man meinen. Tut es nicht.

Wenn der weit überwiegende Teil der Wissenschaft festhält, die Impfung sei der Schlüssel für die Bekämpfung der Corona-Pandemie, sollte das reichen. Tut es nicht; noch viel weniger als in der Klimafrage.


Ein kurzer Rückblick


Im Sommer 2016 führte die CNN-Reporterin Alisyn Camerota ein Interview mit Newt Gingrich, einem der wichtigsten Verbündeten von Donald Trump im US-Präsidentschaftswahlkampf. Unter anderem unterhielten die beiden sich über Kriminalität. Nach einigem Hin und Her zwischen Fakten (Camerota) und „Wahrheit“ (sagt Gingrich) entspann sich folgender Dialog:


CAMEROTA: Aber was Sie sagen, ist – aber warten Sie, Herr Vorsitzender, denn Sie sagen, die Liberalen benutzen diese Zahlen, sie benutzen diese Art von magischer Mathematik. Dies sind die Statistiken des FBI. Und das ist keine Organisation der Liberalen.


GINGRICH: Nein, aber was ich sage, ist ebenso wahr. Die Leute spüren es.


CAMEROTA: Sie fühlen es, ja, aber die Fakten unterstützen es nicht.


GINGRICH: Als Politiker schließe ich mich den Gefühlen der Menschen an und lasse Sie mit den Theoretikern ziehen.

(Zitiert nach Bogner, Epistemisierung. Literaturhinweise am Ende des Beitrags)


„Information“


Warum fällt es uns so schwer zu begreifen, dass nicht mehr wahr sein soll, was doch ganz offensichtlich zu sein scheint und allem Anschein nach „ist“ (und mit dem kleinen Wörtchen uns ist eine jeweils zu definierende weitgehende Einschränkung verbunden: nach sozialem, ethnischem, kulturellem, politischem, sozioökonomischem oder Bildungshintergrund)?

Dabei haben die Fragen, was Wahrheit und was Wahrnehmung, was Sein und was Bewusstsein sei und ob im Anfang die Henne oder das Ei oder doch nur das Wort war, die Menschheit beschäftigt, seit sie den Kopf nicht nur zum Jagen, sondern auch zum Denken zu benutzen weiß. Die gesamte Geschichte der Philosophie und der Wissenschaft zeugt davon, und die Religionskriege inklusive der Heiligen Inquisition sind lediglich Seitenstränge in dieser jahrtausendealten, aber noch immer aktuellen Erzählung. Seit wir Menschen nachdenken können, streben wir nach wahrer Erkenntnis. Das ist also nichts Neues.


Neu ist das Problem der Massenvervielfachung von Information in Echtzeit, weltweit. Ohne Kontrolle, ohne Regulativ. Sofort, direkt.

Im September 2020 verzeichnete der damalige US-Präsident Donald Trump nicht weniger als 87 Millionen Interaktionen auf seiner Facebook-Seite, mehr als CNN, ABC, NBC, die New York Times, die Washington Post und BuzzFeed zusammengenommen.

Dabei kümmerte es Marc Zuckerberg, den HErrn über 2,9 Milliarden Nutzer:innen, wenig, dass Trump vollkommen skrupellos glatte Lügen, frei erfundene Schauergeschichten über seinen Konkurrenten Joe Biden und gefälschte Videoclips über die Sprecherin des Repräsentantenhauses Nancy Pelosi verbreitete und in den Tagen nach seiner Wahlniederlage offen zum Aufstand gegen die vermeintlich „gestohlene Wahl“ aufrief. Aufforderungen der Öffentlichkeit, den Algorithmus von Facebook so anzupassen, dass dieser zumindest keine automatische, maschinengenerierte Topreihung offensichtlicher Fake-News im News Feed vornehmen möge, liefen ins Leere.


Wie ausgefeilt die Algorithmen von Facebook (zum Meta-Konzern Zuckerbergs gehören auch Instagram und WhatsApp) schon im ersten Trump-Wahlkampf 2015/16 waren, zeigt die Tatsache, dass es russischen Hacker:innen, die sich als amerikanische Bürger:innen ausgaben, gelang, durch die Gründung von Facebook-Gruppen und mit einem vergleichsweise winzigen Inseratenbudget von 300.000 Dollar nicht weniger als 123 Millionen Amerikaner:innen zu erreichen.

Bis zum heutigen Tag wiederholt Marc Zuckerberg unentwegt und unerschütterlich sein Mantra von dem, was er für Meinungsfreiheit hält: „Ich bin eben fest davon überzeugt, Facebook sollte nicht bei allem, was die Leute online von sich geben, den Schiedsrichter der Wahrheit spielen.“ Daran hielt Zuckerberg selbst dann noch fest, als Trump nachweislich log, Gewalt relativierte und indirekt zu Gewalt aufrief.


Chris Cox, ein Veteran des Konzerns, der Facebook im Streit verließ, um ein Jahr später zurückzukehren, pflegte neuen Mitarbeiter:innen den folgenden Satz ins Stammbuch zu schreiben: „Die Geschichte der sozialen Medien ist noch nicht geschrieben, und ihre Folgen sind nicht neutral.“

(Zitiert nach Frenkel/Kang, Inside Facebook. Literaturhinweise am Ende des Beitrags)


Wir streiten auf dem falschen Spielfeld


Während wir uns in erbitterten Grabenkämpfen ineinander verkeilen, wo die einen (Mehrheit!) meinen, mit Argumenten und Fakten in die Echokammern der algorithmischen Paralleluniversen vordringen zu können, und die anderen (Minderheit!) hoffen, dereinst als Helden des Widerstandes „gegen das System“ gefeiert zu werden, kochen „Parteien“, denen Verfassung und Gewaltenteilung im Grund ein Greuel ist, wohlkalkuliert ihre demokratiedestabilisierenden Suppen. Frei nach der einfachen Gleichung: Je schwerer der Verlauf einer COVID-Erkrankung, desto gesünder das Volksempfinden.


„Die Echtzeit-Demokratie, die in den Anfängen der Digitalisierung als Demokratie der Zukunft erträumt wurde, erweist sich als totale Illusion. Digitale Schwärme bilden kein verantwortliches, politisch handelndes Kollektiv. Die Follower als neue Untertanen der Sozialen Medien lassen sich von ihren smarten Influencern zum Konsumvieh abrichten. Sie werden entpolitisiert. Die algorithmengesteuerte Kommunikation in den Sozialen Medien ist weder frei noch demokratisch. Sie führt zu einer neuen Entmündigung. Das Smartphone als Unterwerfungsapparat ist alles andere als mobiles Parlament. Es beschleunigt den Zerfall der Öffentlichkeit, indem es als mobiles Schaufenster unentwegt privates veröffentlicht. Es bringt eher Konsum- und Kommunikationszombies als mündige Bürger hervor.“

(Zitiert nach Han, Infokratie. Literaturhinweise am Ende des Beitrags)


Facebook verfügt über Barreserven von unfassbaren 55 Milliarden Dollar; die Profitmaschine, die Sekunde für Sekunde die Daten ihrer mittlerweile rund drei Milliarden Nutzer:innen in Geld verwandelt, scheint unaufhaltsam und walzt jeden Austausch von Argumenten nieder. Die komplette Machtübernahme von BigTech – neben Facebook wohl Google/Alphabet, Amazon, Apple und Microsoft sowie Tencent und Alibaba – ist wohl nur mehr eine Frage der Zeit. Gibt es da draußen tatsächlich noch irgendjemanden, der der Ansicht ist, das World Wide Web bringe Demokratisierung und Teilhabe für alle? Ich bezweifle es; und der Arabische Frühling, dem man nachsagt, er sei die erste Social-Media-Revolution gewesen, ist auch schon wieder über zehn Jahre her.


Raus aus dem digitalen Narzissmus


Es ist, so lese sich, nichts Ungewöhnliches mehr, dass Menschen Beziehungen mit anderen Menschen mittels WhatsApp-Nachricht beenden. Vishal Garg, der CEO des New Yorker Hypothekenunternehmens Better.com, ging unlängst einen unerhört unappetitlichen Schritt weiter und entließ auf einen Schlag 900 Angestellte. Im Rahmen eines einzigen Zoom-Meetings. Manchmal ist die digitale Arbeitswelt einfach nur zum Kotzen. Doch ich schweife ab (oder eigentlich auch nicht):


Der Ort, an dem ausgetragen wird, was Wahrheit, was Erkenntnis, was Wissenschaft, was Wissen, was Glauben und was Wahrnehmung ist, muss wieder die direkte Begegnung werden. Reden statt posten. Dialog statt Threads. Treffen statt Online-Meetings und Webcalls. Handschlag statt „Like“-Button. Auge in Auge statt bildschirmstarr. Zurzeit halt mit den aufgrund der Pandemie notwendigen Distanzen und Sicherheitsvorkehrungen.


Möglicherweise ist es wie mit dem Klimawandel: Möglicherweise sind wir zu spät dran.

Aber vielleicht auch nicht.

Beides also Annahmen mit Restunsicherheiten.

Ich wähle dann doch die Option, (noch) zu handeln.


Meine Facebook- und Instagram-Accounts werden mit 31.12.2021 gelöscht.


Literaturhinweise

Byung-Chul Han: Infokratie. Digitalisierung und die Krise der Demokratie. Berlin: Matthes & Seitz 2021.

Alexander Bogner: Die Epistemisierung des Politischen. Wie die Macht des Wissens die Demokratie gefährdet. Stuttgart: Reclam 2021.

Sheera Frenkel/Cecilia Kang: Inside Facebook. Die hässliche Wahrheit. Frankfurt: S. Fischer 2021.


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